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Partizipierender Voyeur

„Zwischen Himmel und Hölle“ (1963) von Akira Kurosawa läuft zum ersten Mal in deutschen Kinos  ■ Von Christiane Voss

Im modernen, säkularisierten Himmel sitzen unsichtbare Menschen, durch deren Augen wir auf die Erde hinabschauen, die ihrerseits längst kein unberührtes Paradies mehr ist, sondern urbaner Dschungel – eine endlose Stadt. Die Stadt heißt Yokohama, aber sie könnte auch einen x-beliebigen anderen Namen haben. Es ist die erste Einstellung in Kurosawas Film „Zwischen Himmel und Hölle“ (1963) und zugleich eine Ankündigung: Es wird eine Erzählung folgen, die von Menschen handelt – es wird um eine Suche gehen, Labyrinthe müssen entwirrt werden, der Zuschauer muß sich den Menschen und Dingen, die, wie die Stadt aus der Distanz, unüberschaubar sind, nähern, damit sie transparent werden.

Folgerichtig tauchen wir schon in der nächsten Einstellung in Kurosawas Geschehen ein: Im hellen, großzügigen Innenraum einer Villa sitzt eine Männerrunde und diskutiert. Es sind Geschäftsführer und Aktionäre einer Schuhfirma namens „National“, für die auch der wohlhabende Gondo seit Jahrzehnten arbeitet. Gondo (Toshiro Mifune) ist ein Selfmademan und gleichzeitig die perfekte Inkarnation des Jedermann: traditionell, prinzipientreu, reell, integer. Als seine Geschäftspartner ihn zu überreden versuchen, die Qualität seiner Schuhprodukte zugunsten einer profitableren Massenproduktion zurückzustellen, verweigert er sich. In den ersten Minuten kommt es bereits zum Konflikt. Macht er nicht mit, so die Drohung, wird er entlassen.

Gondo entscheidet sich, eine Hypothek auf sein Haus aufzunehmen, um genug Aktienanteile erwerben zu können, die seinen Einfluß bei „National“ sichern. Es geht um seine Zukunft und die seiner Familie, und das bedeutet für ihn vor allem: Fortsetzung des Vergangenen nach alten Regeln. Schon glaubt man die folgende Entwicklung absehen zu können. Einem klassischen Erzählmuster entspräche nun die Fokussierung des Konflikts zwischen klar definierten Fronten, mit Aussicht auf eine eindeutige Entscheidung am Ende der Geschichte. Kurosawa will es anders.

Ohne die Perspektive und den Innenraum der Villa zu verlassen, ändert sich plötzlich die Szenerie: die ersten Akteure bis auf Gondo treten ab und werden nacheinander ersetzt durch Gondos Sohn, der mit dem Sohn des Chauffeurs Verfolgungsjagd spielt, seine Frau und seinen Sekretär. Alle sind gleichzeitig im Bild, kaum Gegenschnitte, keine Bilderflut, keine Musik, ein paar Gespräche zwischen den Akteuren, die sich mehr oder weniger um Gondos Plan drehen. Diese spröde, kammerspielartige Inszenierung würde vermutlich langweilen; doch Kurosawa vermittelt in teilweise minutenlangen Einstellungen einen hautnahen Realismus, der uns zwingt, wissen zu wollen, was nun passieren wird. In Sitzhöhe postiert, verfolgen wir durch die Kamera die Bewegungen der Akteure, so als säßen wir ebenfalls mit im Raum des Geschehens. Es ist die Spannung eines partizipierenden Voyeurs, die einen fesselt.

Das Telefon schellt. Zeit ist vergangen, nur die Erwachsenen befinden sich noch im Zimmer. Gondo hebt den Hörer ab und eine fremde Stimme spricht von Kindesentführung und Lösegeld. Erst jetzt bemerkt Gondo das Verschwinden der Kinder, die soeben noch im Raum spielten. Im Affekt verspricht Gondo am Telefon, sofort auf alle Forderungen einzugehen, während seine Frau aufgeregt nach ihrem Sohn ruft – der kurz darauf auch erscheint. Die hektische Verwirrung wird auf die Spitze getrieben als sich herausstellt, daß der Entführer zwar versehentlich den Jungen des Chauffeurs entführt hat, aber nichtsdestotrotz das genannte Lösegeld von Gondo fordert – andernfalls würde er den Jungen töten. Aber was hat er, Gondo, mit dem Jungen seines Chauffeurs zu tun?

Schon in seinen früheren Filmen hatte Kurosawa die Konfrontation mit dem Unerwarteten, dem Unvorhersehbaren, dem Schicksal ohne Sinn genutzt, um die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Daseins auszuloten („Der Idiot“, 1951; „Das Schloß im Spinnwebwald“, 1957; „Nachtasyl“, 1957). Was Menschen aus ihrem Leben zu machen bereit sind, interessiert ihn, und nicht, was sie normativen Ansprüchen gemäß daraus machen sollten. Der Kampf zwischen Moral und Egoismus ist nicht ein für allemal zu lösen oder auch nur aus der Welt zu schaffen. In dem Punkt ist Kurosawa kein Weltverbesserer oder Erzieher. Relevant ist die individuelle Umgehensweise mit konkreten Herausforderungen und Realitätskollisionen. In Gondos Fall stellt sich die Frage, ob er bereit sein wird, trotz oder gerade wegen seiner pragmatischen und traditionellen Lebensauffassung über seinen Schatten zu springen und tatsächlich einen Neuanfang zu riskieren – und das noch aufgrund eines Problems, für das er sich nicht zuständig fühlt.

Kurosawas Hauptfiguren sind Lernende, so auch Gondo. Er schaltet die Polizei ein, die ab jetzt dauernd mit im Haus ist. Alle Akteure: Polizei, Frau Gondo, der Chauffeur und Gondos Sohn scharren sich um ihn und versuchen, seine Entscheidung positiv zu beeinflussen. Er lehnt es dennoch strikt ab, das Lösegeld zu zahlen. Die Umstehenden haben die Funktion eines Chors wie in klassischen Tragödien. Sie geben Ratschläge, stehen auf der „richtigen Seite“, aber eingreifen können sie in den notwendigerweise einsamen Entscheidungsprozeß des „tragischen Helden“ nicht. Erst als alle einsehen, daß ihm keiner zumuten kann, sein Leben zu ruinieren um ein anderes zu retten, entscheidet Gondo sich dafür, es wenigstens auf einen trickreichen Versuch ankommen zu lassen. Er handelt aus Überzeugung und findet damit zurück zu seiner Integrität, wenn auch auf andere Weise als er sie bislang von sich kannte.

Jetzt verläßt die Kamera zum erstenmal die Villa, ein Zug fährt seitwärts durchs Bild und zieht ein neues hinter sich her. Die polizeiliche Maschinerie setzt sich in Gang und die Ereignisse überschlagen sich. Plötzlich geht alles schnell. Die mit neun Kameras gedrehte Zugsequenz suggeriert Hektik, anhaltenden Atem, Spannung. Mißtrauisch beobachten die eingeschmuggelten Polizisten die anderen Menschen im Zugabteil – jeder ist verdächtig. Je näher sich Gangster und Gondo kommen, desto hysterischer und dramatischer wird die Situation. Auch unabhängig von Gondos Interesse, möglichst heil aus der Verstrickung herauszukommen, fordert bereits die Eigendynamik des Geschehens notwendige Konsequenzen: der Gangster muß gestellt und bestraft werden. Massenhaft werden Sonderkommandos eingesetzt, um Fährten nachzuspüren und Fallen für den Entführer zu konstruieren. Gerade hierfür weiß Kurosawa virtuos sein Wiederholungsprinzip zu nutzen: auf der Polizeistation, wo alle zuständigen Personen ihre vorübergehenden Ergebnisse mitteilen, rekonstruiert er über Rückblenden die Ereignisse. Darüber hinaus sorgt weiteres Material wie Blow-ups von Fotos und unscharfe Film-Sequenzen, die zuvor aus dem Zug heraus aufgenommen wurden, dafür, daß auch der Zuschauer „Selbstgesehenes“ zu erinnern beginnt – und den kriminologischen Prozeß der Verfolgung mit aufnimmt.

Alle Wege führen zum Täter Takeuchi (Tsutomu Yamazaki), ein junger Mann, der in einem Krankenhaus arbeitet und mit Drogenabhängigen kooperiert. Die Leichen seiner Helfer hat die Polizei bereits gefunden. Obwohl jetzt alle Indizien da sind und der Täter bekannt ist, greift die Polizei nicht ein, womit eine erneute Wendung ins Spiel kommt. Die Kausalität des folgenden wirkt so absurd wie zwingend: Statt Takeuchi einfach festzunehmen, entwerfen die Kommissare ihrerseits einen teuflischen Plan, von dessen Gelingen das Leben Takeuchis abhängt. Die Instanz der Legalität – bislang aufrechte, ungebrochene Helfer – frönt nun einem völlig irrationalen und überzogenen Rache- und Jagdinstinkt.

Obwohl es am Ende längst nicht mehr um die beiden geht, führt Kurosawa noch einmal eine Konfrontation zwischen Takeuchi und Gondo herbei. Durch ein Gitter und eine Glasscheibe getrennt, sitzen sie sich gegenüber. Ihre Gesichter überlagern sich durch die Reflexion der Scheibe, aber es kommt nicht einfach zu einer dialektisch gewendeten Identifikation der beiden Gegensätze. Betont wird allein – und das auch nur rein visuell – daß es um Polarität nicht gehen kann. Was sie (und andere) voneinander unterscheidet, ist vor allem die Freiheit zur Selbstbestimmung. Von welchen subjektiven und objektiven Bedingungen diese Freiheit allerdings abhängt, ist die Frage, die es mit Kurosawa zu stellen gilt.

Akira Kurosawa: „Zwischen Himmel und Hölle“. Im Graffiti und im Moviemento

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