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Sonntags Sahne, Salz und Sprudel

Geschäftigkeit in einem lippischen Kurort: Orchesterstücke von Lincke und Lehár, Transvestiten-Show und Zigeunerbaron, Fango und Frankfurter Kranz. Zum Beispiel: Bad Salzuflen  ■ Von Klaus Vogt

Auf den Kieswegen und Parkbänken rund um die Gradierwerke herrscht fast klösterliche Ruhe. Es hat etwas von der Gedämpftheit und Zeitlupenhaftigkeit der Tai- Chi-Tänzer/Turner in Pekinger Parks, wie die Besucher an den sprühenden Holzgerüsten entlangschlendern, die auf 7.000 Quadratmetern Verdunstungsfläche „Meeresluft“ produzieren. Die müßigen Flaneure reden leise, inhalieren tief und lauschen versunken dem Plätschern, das die täglich 300.000 Liter Sole auf ihrem Weg durch die 400 Meter lange Aufschichtung von Schwarzdornreisig verursachen. Die Menschen sitzen entspannt in den weißen Palisadenbauten, hören dem Gluckern und Rieseln der Wassertropfen zu und staunen über die bizarren Gips- und Mineralablagerungen auf den Zweigen, die von der Sonne gebleicht weiß strahlen. Seit Kaisers Zeiten muß das verkalkte Holz alle zehn Jahre ausgetauscht werden.

Salziger Tau benetzt die frische Dauerwelle und den glatten Fassonschnitt, den man sich am Nachmittag zuvor gegönnt hat – für das Kurkonzert. Langsam füllen sich die Plätze vor der unvermeidlichen Kurorchestermuschel. Ein Kavalier der alten Schule kämpft mit dem widerspenstigen Ständer eines Sonnenschirmes, um der Dame seines Herzens einen Platz im angenehmen Schatten bieten zu können. Die alte Dame kichert wie ein Backfisch; die männliche Autorität des Beaus ist in Frage gestellt, doch – schnapp – geht der Schirm auf, und die beiden können sich in ungetrübter Stimmung der Musik hingeben. Orchesterstücke von Lincke, Lehár und Strauß jr. stehen auf dem Programm, die „Petersburger Schlittenfahrt“ wird versprochen und ein Potpourri ungarischer Melodien angekündigt: feurig wie „Paprika“. Damit das Warten auf den Programmpunkt „Sie wünschen, wir spielen“ nicht allzu unbequem wird, gibt es am Kiosk Sitzkissen zu kaufen, das Modell „Inkontinentia“ sogar mit Nässeschutz.

„Moonriver“, auf der Klarinette gespielt, erhebt sich über die Wipfel des weitläufigen, bewaldeten Parks. In Sonntagsstimmung schlendern die Besucher an den liebevoll gestalteten Blumenrabatten, am Grabmal von Leopold Sprudel, dem Erfinder des gleichnamigen Getränks, und an lesenden Müßiggängern und Schachspielern vorbei hin zur Kunsthalle. Die „Interessenvertretung gegenständlicher Malerei“ hat dort eine Ausstellung mit einer schwindelerregend breiten Palette von Motiven organisiert: der Blumenstrauß, die tiefdekolletierte Zigeunerin, der Keiler auf der Waldlichtung, der listige Fuchs, das griechische Fischerdorf – alles findet wohlwollende Aufnahme. An der Außenwand der Kunsthalle hängt dauerhaft ein Relief des Bildhauers Müller-Oerlinghausen (1893–1979): „Mensch und Musik zwischen Pan und Apoll“.

In der benachbarten Wandelhalle schlägt das Herz der Mineralwasserfetischisten am höchsten. Ordentlich aufbewahrt und mit einzelnen Nummern versehen, stehen Trinkbecher aus grünem Glas für den Entleiher parat, übersichtlich an ihrem Platz wie in der Theatergarderobe und mit persönlicher Nummer auszulösen, um sie mit kaltem Sprudel aus drei verschiedenen Quellen füllen zu lassen. „Sophie“ zum Beispiel hilft bei Gallenbeschwerden und Calciummangel; „Leopold“ eher bei Herz- Kreislauf-Beschwerden, das Glas für eine Mark, die Flasche für zwei.

Die Radikalästhetik der sechziger Jahre lädt zum Verweilen ein: Gummibäume auf dreieckigen Blumenhockern, bunte Scherbenmosaike und endlose Reihen von Verkaufsvitrinen, in denen „Objekte der Begierde“ für die ältere Generation feilgeboten werden: Strickjacken, Wärmflaschen, Pralinenschachteln und stilvolle Polstergarnituren.

Vorbei an den „Gurgelräumen“, neben den Fernsprechzellen, gelangt man zur Niederlassung von Herrn Kluge. Herr Kluge lebt davon, alles zu fotografieren, das sich mehr oder weniger rüstig im Kurpark auf zwei Beinen fortzubewegen versucht. Die Vielzahl der ausgestellten Trophäen zeigt: viele sind zu langsam. Zudem können sie dem sinistren Charme des Trenchcoatträgers mit dem roten Schlips gar nicht entkommen. Wie die Sesamstraßenpuppen, die immer „genauuuu“ und „pschscht“ zischen, verabreicht auch Herr Kluge schleichendes Gift. Die alte Schule.

Auf dem Weg zu Deutschlands größtem Thermal-Sole-Bewegungszentrum trifft man im Landschaftspark Herrn M. Laut pfeifend und eine Handvoll Erdnußbrösel von sich streckend, durchstreift er das Gebüsch und fasziniert die Spaziergänger mit einem poetischen Schauspiel: Kohlmeisen tanzen auf seiner Handfläche und picken die Nußstückchen auf. „Ich hab' nu mal 'ne Meise: doch wir duzen uns“, sagt der heilige Franziskus von Bald Salzuflen.

Auch das Mondäne ist in den großzügigen Grünanlagen zu Hause. Wer über die Wahl zwischen „Strammem Max“ und „Sanftem Engel“ (O-Saft mit Vanilleeis) nur die Nase rümpfen kann, zieht sich zurück in das gediegene Kurhausinnere und genießt in palastartiger, säulendurchwirkter Architektur eine elegante Tasse Tee. Vor dem Kneippschlauch sind alle Menschen gleich. Doch hier wird der selbsternannte Kuradel abends mit Sicherheit die verwöhnten Nerven mit einem kulturellen Ereignis aus dem reichhaltigen Angebot von 1.400 Veranstaltungen im Staatsbad pro Jahr stimulieren können. Die Travestie-Show „Chez Nous“ ist angekündigt; der Aufführung des „Zigeunerbarons“ fiebert man ungeduldig entgegen. Wohlwollend nimmt man die Vorschau auf die „Kalletaler Blasmusik“ zur Kenntnis, und die „100 Minuten PSI“ von Hanussen sind schon jetzt das Tagesgespräch im vielgestaltigen Kuralltag – sieht man einmal von der Modenschau ab, auf der „Chic und Eleganz auch für die stärkere Dame“ versprochen wird.

Bis dahin ist noch Zeit für ein zweites Stück Frankfurter Kranz mit Sahne. Alltags wird wieder in der Fangopackung geschwitzt und im Salzwasser gestrampelt. Und von der Orchestermuschel wehen süße Walzerklänge herüber ... Klaus Vogt

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