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Politische Grenzsprengungen

■ Gabriele Naumann und Dieter Jaenicke zum Thema des 10. Internationalen Sommertheaters auf Kampnagel

taz: Warum habt ihr zum 10-jährigen Jubiläum kein Highlights-Festival veranstaltet?

Jaenicke: Für ein Avantgarde-Festival, wie das Sommertheater, liegt es weit näher, auch anläßlich eines solchen Datums nicht nostalgisch zurück-, sondern weiter in die Zukunft zu blicken. Für uns stand im Vordergrund, wie können sich Künstler aus den Performing Arts, aus Theater und Tanz mit den neuen, wahnsinnigen Entwicklungen in der ganzen Welt auseinandersetzten. Das ist viel wichtiger und angemessener, als sein eigenes Jubiläum groß zu feiern.

taz: Aber hätte man nicht doch zu dem Anlaß ein wenig mehr auf Kontinuität setzen können und zum Beispiel die neuen Produktionen von Josef Nadj oder Teshigawara einladen können?

Jaenicke: Es ist ja durchaus sinnvoll, daß so ein Festival mit einigen Leuten längerfristig zusammenarbeitet. Aber in diesem Jahr ging es uns wirklich um dieses Thema und das ist nicht verschiebbar: Die Ausseinandersetzung mit dem, was das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen an unglaublichen Problematiken aufwirft und wie sich Künstler dazu verhalten.

Naumann: Es ist ja auch kein Thema, was sich als Schnellschuß entwickelt hat. Es ist vielmehr wie ein Klette, die du nicht los wirst. Es existiert eigentlich schon seit 1990 und es gärt so lange, weil es eine andere Herangehensweisen braucht. Man muß suchen, welche Funktion kann politisches Theater haben, welche Funktion hat solch ein Begriff in unterschiedlichen Ländern, wo liegt die Verantwortlichkeit von Künstlern, die man nicht in unser Klischee von politischem Theater stecken kann.

Jaenicke: Etwa das Sarajevo-Projekt. Das ist von Leuten an uns herangetragen worden, die sagten, wir möchten gerne theatralisch etwas zu unseren Erfahrungen, die wir selber in Sarajewo gemacht haben, zu dieser Illusion von der multikultureller Stadt machen. Und das hätte natürlich auch schrecklich baden gehen können, aber uns hat die Haltung dieser Leute interessiert. Das nur als Beispiel, was ein Festival wie unseres in einem thematischen Zusammenhang ermöglichen kann und soll.

taz: Wenn ich mir lediglich den Titel „Theater an den Schnittflächen von Kulturen“ ansehe, dann muß ich sagen, daß mir kaum ein Gruppe im Welttheater einfällt, die man nicht unter dieser Überschrift subsummieren kann.

Naumann: Der Gedanke war, wir wollten in Ländern suchen, die a.) eine Kolonialerfahrung haben oder b.) mit einer zweiten oder dritten Einwanderergeneration leben und die damit eine andere Kulturerfahrung haben als Deutschland. Daher der Gedanke, da muß es Künstler geben, die durch diese kulturelle Erfahrung ihre Form und ihre Sprache finden. Und dann wurde gesucht.

Jaenicke: Das Entscheidende ist, daß bei den Compagnien ganz bewußt die Konfrontation mit diesem Fragenkomplex stattfindet. Das war dann das Kriterium, an dem sich Auswahl entschieden hat.

taz: Wenn man sich die letzten Themata seit 89 ansieht, dann ging es eigentlich immer um „Grenze“. Um Europa ohne eisernen Vorhang, um Ost-West-Verhältnisse, um Grenzgänger, jetzt um Schnittflächen...

Jaenicke: Wir arbeiten in dem Breich, wo wir immer wieder versuchen, an Begriffe neu heranzugehen. Es geht ja wesentlich nicht um Grenzziehungen, sondern um Überschreitungen. Schon die Kunstformen, mit denen wir uns hier befassen, begreifen wir vom Hintergrund her als grenzsprengend.

Naumann: Ich glaube, das wird sich in den nächsten Jahren auch nicht ändern. Vielleicht kriegst du noch einmal eine andere Facette davon, aber letztendlich ist dieses Thema immer das Zentrum.

taz: Es gibt dieses Jahr drei israelische und zwei amerikanische Produktionen, die sich mit jüdischer Identität beschäftigen. Ist das ein bewußter Schwerpunkt?

Naumann: Es war nicht so, daß ich dachte, ich müsse jetzt fünf oder sechs Compagnien haben, die etwas mit Israel oder Juden zu tun haben. Es war mehr das Bedürfnis, wenn man auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise einen Blick von Geschichte mit herein bekommen könnte, dann wäre das wunderbar. Als ich dann das Theaterzentrum Akko gefunden hatte, da dachte ich, das darf überhaupt nicht wahr sein, daß es soetwas tatsächlich gibt. Was ihre hohe Qualität ist, daß sie einfach Distanzen auflösen und zwar nicht per Kopf, sondern mit ihren theatralischen Mitteln. Und die sind atemberaubend. Und eine Recherche dahinter, puhh, die entsteht nicht von heute auf morgen. Ohad Naharin ist jemand, der aus dem künstlerischen Exils zurückgegangen ist nach Israel mit einem geschärften Blick und seine Kulturgeschichte neu betrachtet hat und Albert Greenberg ist einfach ein brillanter Schauspieler, der wie selten jemand aus Nichts eine ganze kleine Welt entstehen läßt. Dabei behandelt er als amerikanischer Jude sein Verhältnis zu den Amis, zu den Israelis, zu den Arabern und den Deutschen. Rachel Rosenthal ist ja eine der großen alten Damen der Performance-Art in den Staaten, die sich immer über ihren jüdischen Hintergrund mit ihrer Arbeit befaßt hat, auf eine sehr persönliche Art und Weise. Und so lag dieser Schwerpunkt auf der Hand.

taz: Es gibt nur drei oder vier Produktionen aus Europa.

Jaenicke: Früher konnten wir überhaupt nicht anderes - aus Budget-Gründen -, als uns sehr auf Europa zu konzentrieren. Wir sind eigentlich erst seit letztem Jahr ganz explizit darüber hinausgegangen. Wir wollen diesen Blick weiten und deswegen gehen wir im Moment ein bißchen ins andere Extrem.

taz: Welches sind die Produktionen abseits der Highlights, die euch besonders am Herzen liegen?

Jaenicke: Athanor Danza. Ich finde das ist eine unglaublich schöne und sensible Arbeit. Restrepo schließt uns die Welt seines autistischen Bruders auf und verbindet dabei atemberaubende Schönheit mit ganz sensibler Detailarbeit.

Naumann: Einmal Sarajewo. Das finde ich eine sehr wichtige Arbeit, auch, weil sie auf der Bühne relativ unspektakulär ist, aber es sind wunderschöne Textsequenzen drin, die zum Nachdenken anregen. Das zweite ist die indische Keli Company von Annette Leday. Das gehört für mich, was Tanz betrifft, zu den schönsten Sachen die ich gesehen habe.

taz: Was erinnert ihr aus den letzten zehn Jahren besonders gerne und besonders ungerne.

Jaenicke: Eine der schmerzhaftesten und übelsten Erinnerungen und Erfahrungen waren die Auseinandersetzungen am Ende der Dienstzeit von Frau Schuchardt. Das war an der Kippe, daß es das Festival nicht weitergegeben hätte. Positiv unvergessen bleibt für mich die erste Veranstaltung mit La Fura dels Baus. Heute hat es schon fast etwas wie ein Kindheitserlebnis. Und zu den schönsten Erlebnissen gehört sicherlich auch Teshigawara. Bis heute hat es noch niemand gegeben, der diese riesige Halle 6 so verwandelt hat wie er. Das dritte ist Yoshi Oida und Elsa Wolliaston.

Naumann: Für mich gehörte auch Jozef van den Berg dazu, weil ich mit ihm Situationen auf der Bühne erlebt habe, daß ich da wirklich heulend gesessen habe. Wie er sich zwischen Erwachsenen, Kleinkindern und Behinderten bewegt hat und immer Geschichten erzählt hat und damit ein unglaubliche Spannung erzeugte. Dann Elsa und Oida, das teile ich. Und dann die allererste Carlotta Ikeda. Am beschissensten in letzter Zeit, ganz persönlich, fand ich Gerald Thomas.

Fragen: Till Briegleb

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