■ Die neue Woche im Zeichen des Todesschusses: Schmauchspuren am Kanzlerohr
Montag, 12. Juli:
Das Bundeskriminalamt serviert am Abend eine neue Schußverdächtige: Die Serviererin der Bahnhofsgaststätte in Bad Kleinen. Wolfgang Grams habe, so verkündet der immer noch amtierende BKA-Chef Zachert erstmals stotterfrei, in der Eile des Aufbruchs nicht mehr bezahlen können: 17,80 Mark. Eine Zeugin, so heißt es weiter, habe von einem Zeugen berichtet, der die Aussage eines dritten bezeugen könne, der die Worte gehört habe: „Zechpreller, dich mach ich platt.“ Zachert: „Eine durchaus ernsthafte Spur.“ Vorsorglich sei gegen alle Gastwirte und Thekenkräfte in Ostdeutschland Haftbefehl erlassen worden.
Der WDR berichtet zur gleichen Zeit, ein nicht näher benanntes Ministerium habe ein Gutachten über die vielen kursierenden Gutachten in Auftrag gegeben. Dies werde derzeit „von höherer Warte“ begutachtet.
Dienstag, 13. Juli:
Der Spiegel erscheint nun täglich, weil immer neue Zeugen immer spektakulärere Details vorbringen. In der heutigen Frühausgabe ist von einem Mann die Rede, der die Täterschaft des Bahnhofsvorstehers beeidet. Grams habe Gleis IV betreten, ohne „das entsprechende Entgeld nach den gültigen Tarif-Vorschriften der Deutschen Reichsbahn zu entrichten“. Dann habe alles sehr schnell gehen müssen, so der Zeuge, denn auch RAF-Terroristen haben einzusehen, daß eine Revolution in Deutschland nicht ohne die entsprechende Bahnsteigkarte vor sich gehen könne. Grams angebliche Rufe „Ich hab' doch kein Kleingeld!“ seien eine reine Schutzbehauptung gewesen.
Der am Wochenende zurückgetretene Innenminister Kanther („Auf welche Schnellschüsse hab' ich mich da eingelassen?“) ist ins Ausland geflohen (angeblich Asyl beim König von Tonga). Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ist ihm gefolgt.
Die alte GSG 9 wird aufgelöst.
Mittwoch, 14. Juli:
Weiterer Medienstreit um die Identität des dritten Mannes. Jede Zeitung hat jetzt einen eigenen arbeitslosen GSG-9-Mann als gutbezahlten Zeugen (Schreckschuß- Journalismus). Der Barde Reinhard Mey mahnt in der Bunten, alle Gärtner von Bad Kleinen augenblicklich zu observieren. Der Wachturm kommt mit einer Sondernummer heraus. Mild lächelnde Gestalten verteilen ihn vor dem Bahnhof Bad Kleinen und verweisen auf einen Tatzeugen mit dem Decknamen Jehova.
Der Stern, „versehentlich“ (Verlagsleitung) mit dem RAF-Stern auf dem Titel, will eine Botschaft des verstorbenen Wolfgang Neuss („Ick hab' von hier oben doch den Übablick“) empfangen haben, der schon in den 60er Jahren einmal einen Mörder erkannt hat (Dieter Borsche in Durbridges Halstuch). Neuss: „Der isset wieda jewesen.“
Neuer Bundesinnenminister wird Peter Gauweiler. Er verspricht viel Ordnung bei wenig Gesetz (law but order).
Donnerstag, 15. Juli:
Erste Amtshandlung des neuen Innenministers: Er stellt der Presse am Morgen die neuen „Gauweilers Schnellschuß-Garden“ (GSG 9 plus) vor. Deren Spezialwaffen („Derringer terr“) haben „für alle denkbaren Einsatzformen“ variable Stanzprofile und vollautomatische Schmauchspurwedel.
In Schwerin wird eine Gruppe Spaziergänger („alle Deutschen sind mittlerweile hinreichend tatverdächtig“ – so der Staatsanwalt) vorläufig erschossen. Die Bundesanwaltschaft (Chefsessel immer noch vakant; die Zeit mit der großseitigen Stellenanzeige erscheint erst heute) verteidigt das Vorgehen („Präventionelle Exekution“). Tragisch, daß sich BKA-Chef Zachert „versehentlich“ (Einsatzleitung) unter den Opfern befindet und „nun auf ewige Langkur“ (taz) geht. Kohl trauert am Mittag, Zachert sei „um die Chance eines ehrenvollen Rücktritts gebracht worden“. Auf Antrag des mecklenburgischen Bündnis 90 wird Schwerin in SchwerIn umbenannt.
Am Abend tritt Peter Gauweiler wieder zurück. Sein Vorschlag, als Generalbundesanwalt Stephan Derrick zu ernennen, war in der Bevölkerung auf empörte Kritik gestoßen. Grund: Die überwältigende Mehrheit traut Derricks Assistenten Harry Klein nicht zu, seine Fälle künftig allein zu lösen.
Freitag, 16. Juli:
Derweil wechseln nun stündlich die Innenminister. Die Bundesdruckerei weigert sich daraufhin, weiterzuarbeiten: „Schluß mit den Überstunden.“ Der DGB droht mit Generalstreik.
Am Nachmittag ereilt die Grünen im Haus Wittgenstein ein Ersuchen des Bundespräsidenten, die Regierung zu übernehmen, wenn sie nur auch einen Innenminister, einen Bundesanwalt und einen BKA-Chef stellten. Die Partei erbittet Bedenkzeit, lehnt aber letztlich ab, weil die Quotierung bei drei Vakanzen nicht zufriedenstellend gelöst werden könne.
Am Abend gesteht Spiegel-Herausgeber Augstein in einer Talkshow, „aus Sorge um Deutschland“ könne er nicht länger die Identität des GSG-9-Zeugen aus der Vorwoche verschweigen. Es sei von Stahl höchstselbst gewesen, der („in seiner Verantwortung für Deutschland“ – Augstein) als der geheimnisvolle Beobachter seiner Behörde zur Tatzeit in Blutbad Kleinen zugegen war. Stahl wird noch in der Nacht liquidiert. Legastheniker des Verfassungsschutzes legen mit dem Bekennerschreiben der „RAFF“ eine zunächst unerklärliche Spur. Orthographie-Gutachter machen sich an die Arbeit.
Samstag, 17. Juli:
Alice Schwarzer verbreitet in der taz sensationelle neue Zweifel an der These um den mysteriösen dritten Mann. Ihre Kernfrage: Wer ist der zweite Mann? Birgit Hogefeld scheide aus, „das müssen auch die schießwütigsten Chauvis einsehen“.
Ein neues Gutachten des Pentagon macht die Runde: Der Schuß habe sich „autonom gelöst“, die Pistole danach selbst zerstört: „Eine intelligente Waffe, wie wir sie schon im Golfkrieg eingesetzt haben“, so ein Sprecher. Folglich sei allein die Waffe der Täter. (Schwarzer: „Täterin! Die Täterin!“)
Am Abend tauchen erste Gerüchte auf, daß Wolfgang Grams lebt. Bei dem Toten soll es sich um den dubiosen dritten Mann (Schwarzer: „Zweiter Mann! Zweiter Mann!“) handeln, der sich bei Frau Hogefeld als Grams eingeschlichen habe. Ex-Innenminister Seiters gibt kund: „Ich wußte gleich, daß das auffliegt.“
Das Spontan-Gutachten eines Mathematikers noch in der Nacht wartet mit der These auf, damit sei der dritte Mann der erste Mann.
Sonntag, 18. Juli:
Die Nachricht schlägt in Bonn wie eine Bombe ein (keine Opfer). „Sollte Grams tatsächlich leben“, so der Bundeskanzler in seiner gewohnt scherzhaften Art, käme er „durchaus als neuer Innenminister infrage“. Als ihn Wolfgang Grams Minuten später anruft („Hallo Chef“), kollabiert Helmut Kohl auf der Stelle. Notärzte können nur noch seinen Tod feststellen. Einer will Schmauchspuren am Kanzlerohr entdeckt haben. Das Telefon wird augenblicklich verhaftet. Bernd Müllender
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