: Der Meister und der Parvenü
Die 80. Tour de France vor der Nagelprobe: Beim heutigen Zeitfahren duelliert sich der Favorit Miguel Induráin mit dem Emporkömmling Alex Zülle ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Etwas ganz Besonderes hat sich das ONCE-Team für die heutige 9. Etappe der Tour de France, ein Zeitfahren über 50 Kilometer am Lac de Madine, ausgedacht. Als wenige Tage nach dem Ende der letzten Tour de France der Brite Chris Boardman in Barcelona die Konkurrenz mit einem neuen Wunderrad von Lotus in Grund und Boden fuhr und olympisches Gold in der Einzelverfolgung abschleppte, dachte Teamchef Manolo Saíz sofort: „Das ist es“. Flugs wurde eine entsprechende Bestellung aufgegeben, und das Resultat darf nun bestaunt werden, wenn sich die ONCE-Spitzenfahrer Alex Zülle (Schweiz) und Erik Breukink (Niederlande) daran machen, dem scheinbar übermächtigen Favoriten Miguel Induráin in seiner Spezialdisziplin ein Schnippchen zu schlagen. Seit zwei Jahren hat der Spanier kein Einzelzeitfahren verloren, und die besten Radfahrer dieser Welt erinnern sich immer noch mit Grausen an jenes Rennen gegen die Uhr vor einem Jahr in Luxemburg, in dem Induráin dem Italiener Gianni Bugno die Ewigkeit von 3:41 Minuten abnahm – ein Schlag, von dem sich dieser bis heute nicht erholt hat.
Am Lac de Madine werden die Weichen für den weiteren Verlauf der 80. Frankreich-Rundfahrt gestellt. Sollte Miguel Induráin den Sprung ins Gelbe Trikot schaffen, wird es seinen Verfolgern in den Bergen schwerfallen, es ihm wieder abzujagen. Wie im Vorjahr bei der Tour und vor einigen Wochen beim Giro d'Italia kann er sich dann darauf konzentrieren, die Hinterräder seiner stärksten Rivalen nicht aus den Augen zu verlieren und etwaige kleine Einbußen beim Zeitfahren des vorletzten Tour- Tages wettzumachen.
Verhindern kann dies, nachdem der Schweizer Tony Rominger, Sieger der Spanien-Rundfahrt, beim Mannschaftszeitfahren fast hoffnungslos zurückgefallen ist, vor allem Alex Zülle. Der 25jährige, der nach der 7. Etappe eine runde Minute Vorsprung vor dem baskischen Rad-Ästheten hatte, ist ein bärenstarker Zeitfahrer, und Induráin kann sich keineswegs sicher sein, daß er gegen ihn am vorletzten Tag einen eventuellen Rückstand aufholen könnte. Bei der Spanien-Rundfahrt hat Zülle bewiesen, daß er auch in den Bergen nicht zu unterschätzen ist, zudem verfügt er im Gegensatz zu Induráin, dessen Teamkollegen Bernard, Delgado oder Gorospe bereits auf den Flachetappen Schwierigkeiten hatten, über eine sehr starke Mannschaft. Sollte Zülle in Lac de Madine die Führung übernehmen, müßte auch Induráin angreifen, und die Sache könnte erheblich ungemütlicher für ihn werden als bisher.
Die erste Tour-Woche gehörte im Gegensatz zum letzten Jahr, als es während des gesamten Rennens nur drei Massenankünfte gab, den Sprintern. Mario Cipollini, Wilfried Nelissen und schließlich der zum Cipollini-Helfer herabgesunkene einstige Topspurter Johan Museuuw, der auf der vom Dänen Bjarne Rijs gewonnenen 7. Etappe die Führung übernahm, tauschten munter das Gelbe Trikot, während Olaf Ludwig nicht wie erhofft zum Zuge kam. Zähneknirschend mußte der 33jährige mitansehen, wie sein früherer Helfer, der 23jährige Belgier Nelissen, die Lorbeeren einheimste. „Ich bin nicht mehr so schnell wie 1990“, gibt der Thüringer zu, „mir fehlt die Spritzigkeit.“ Die hat diesmal vor allem Cipollini, „der schnellste der Welt“ (Ludwig), der bei der Tour 1992 früh ausstieg und in Italien heftig als „Beach Boy“ und „eitler Schönling“, der sich nicht anstrengen mag, kritisiert wurde. Jetzt sprühte der 29jährige vor Motivation und vergaß nach keinem seiner Erfolge die Bemerkung, nun habe wohl jeder gesehen, daß er nicht nur an den Strand denke.
Während sich die Sprinter um die Etappensiege balgten, hatte es Induráin leicht, das Feld zu kontrollieren, da ihm die Teams der flinken Spurter bereitwillig halfen, jeden Ausreißversuch zu unterbinden, der ihn lästig dünkte. Wenn es am Mittwoch in die Alpen geht, wird das anders sein. Zwar haben Gianni Bugno und Claudio Chiappucci wohl insgeheim jeden Gedanken daran, Induráin schlagen zu können, aufgegeben, versuchen wird es insbesondere der unermüdliche Kämpfer Chiappucci dennoch. „Wenn er von verschiedenen Seiten attackiert wird, ist er verwundbar“, macht „Il Diavolo“, wie ihn die heimische Presse inzwischen nennt, sich selbst und den anderen Mut.
Vieles wird vom heutigen Zeitfahren und vom Wunderrad des Alex Zülle abhängen. Ob der Parvenü aus der Schweiz jedoch bereits in der Lage ist, die Tour aller Touren zu gewinnen, ist fraglich. Noch neigt er zu Stürzen im ungünstigsten Moment und zu Unbesonnenheiten. „Er ist nervös“, sagt Manolo Saíz. „Das liegt wohl in der Familie. Ich habe seinen Vater kennengelernt – der ist genauso.“
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