: Entmachtung des biologischen Körpers
„Mythen des Politischen“: Politik, Rhetorik und Differenz der Geschlechter stehen zur Debatte ■ Von Klaus Englert
Spätestens mit dem Ende der Ideologien, mit dem Zusammenbruch der alten Werte, kam die neue Haltlosigkeit. Man könnte nun mit Nietzsche ausrufen: „Unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so offenes Meer.“
Doch die Zeichen der Zeit scheinen andere zu sein: Rassismus, der Ruf nach dem starken Gesetz, die Wiederbelebung der Gemeinschaftmythen nähren die archaischen Wurzeln in der Gegenwart.
Diese eskalierende Konfliktsituation war Anlaß einer kürzlich in Kassel stattgefundenen Tagung mit dem Thema Mythen des Politischen. Brüder und Schwestern. Strukturen und Phantasmen einer elternlosen Gemeinschaft. Gefragt wurde danach, wie sich die elternlose Gesellschaft durchsetzt und wie die Bestrebungen aussehen, den Tod der Familie rückgängig zu machen? In ihrem Vortrag über das kürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsgesetz konnte Gerburg Treusch-Dieter (Berlin, Innsbruck) drastisch vor Augen führen, wie sich die „elternlose Gesellschaft“ aufgrund der technologischen und juridischen Entwicklung durchsetzt. Die technokratische Rede von der „Risikoschwangeren mit Produktverantwortung“ (BVG) bringe uns über die Entrechtung der werdenden Mutter der elternlosen Gesellschaft einen Schritt näher. Durch die Pflicht der Mutter, das Kind auszutragen, werde in Wirklichkeit die Mutter zur Abgetriebenen. Da sie aufgrund dieser Rechtsprechung nur noch als Gefäß für das ungeborene Leben gilt, sei der Weg geöffnet, sie zum Objekt der Wissenschaften zu machen. Treusch-Dieter sah in dem einige Monate zurückliegenden Fall der Marion P., deren toter Körper zur Austragung des Kindes mißbraucht wurde, den Präzedenzfall einer gesellschafts- und gesundheitspolitischen Steuerung. Gerade in diesem Fall habe sich gezeigt, daß die rechtlose Position der Mutter die Gefahr mit sich führt, daß die Medizin den Körper der Schwangeren für ihre Forschungszwecke instrumentalisiert.
Zwangsläufig produziert die elternlose Gesellschaft auch diejenigen Phantasmen, die die Epoche des starken Gesetzes, der intakten Familie und des mächtigen Vaters herbeizitieren. Es sind diejenigen Phantasmen, deren Destruktivitätspotentiale gerade heute die Rede vom gesellschaftlichen Konsens sichtbar erschüttern. In einem heftig diskutierten Vortrag wies Marianne Schuller (Hamburg) darauf hin, daß der Tod der Familie, der der Zeit der schwachen Väter folgt, die Epoche des Gesetzes markiert, das nur noch im Namen des Vaters spricht. Auf diese Leerstelle im Bereich des Symbolischen seien die gegenwärtigen rassistischen Gewaltexzesse zurückzuführen. Da das Gesetz nicht in seiner realen Präsenz, sondern als unerträglicher Mangel empfunden wird, scheint der Tabubruch in Krisenzeiten vorprogrammiert zu sein. Heute versuchen die Rechtsradikalen mit ihren martialischen Märschen und ihren Brandstiftungen gegen die Haltlosigkeit der vaterlosen Gesellschaft das Gesetz einzufordern, die archaische Ordnung und Gesetzesautorität sichtbar und sprürbar zu machen. Deswegen die Beschwörung der alten Gemeinschaftsrituale, deswegen das Einklagen außergesetzlicher Aktionen als Ordnungsstiftung.
Marianne Schuller machte deutlich, daß in den Gewaltexzessen der Rechtsradikalen der Körper wahnhaft an die Stelle des Symbolischen tritt. Dieses Phantasma kann deswegen seine ganze Gewalt entfalten, da in unserer heutigen Gesellschaft eine zunehmende Entmachtung des Körperlichen und Biologischen zugunsten rein symbolischer Prozesse stattfindet. Uneinig war man sich auf dem Kongreß in der Beurteilung der Entwicklung dieser Prozesse: Ist die Loslösung des Körpers in den digitalen Sphären des Cyberspace zu begrüßen? Oder sollte man prinzipiell mißtrauisch sein, vorschnell das technisch Machbare als Allheilmittel zu preisen?
Fasziniert von der angeblichen Allmacht des Technischen träumte die Berliner Medizinsoziologin Jutta Kleber von der großen Freiheit in der „Virtual Reality“. Dort könne der Mensch endlich seinen Wunsch verwirklichen, aus seiner begrenzenden Körperhülle hinauszutreten, um die Unendlichkeit des virtuellen Raums im Cyberspace zu erkunden. Was übrigbleibt, ist die vielgerühmte Intelligenz, die dann über die frei verfügbaren Körper herrscht: Platons Traum von freischwebenden Geist in der Unendlichkeit des Raums. Kleber hat diesen neuen Körper mit der Magersüchtigen verglichen, die ihr Fleisch einfach weghungert, damit jegliches weibliche Merkmal an ihm verschwinde. Deswegen ist die virtuelle Realität die technisch radikalisierte Magersucht, worin die Unterschiede der Geschlechter verschwinden, da die Sexualfunktionen verkümmern.
Ist die Zukunft des Menschen also die Verwirklichung des androgynen Ideals, von dem einst Robert Musil träumte? So weit wollte der Berliner Psychologe Wolfgang Hegener nun doch nicht gehen. Doch auch er glaubt das Verschwinden der Geschlechterdifferenz in der Gegenwart ausmachen zu können. Nur sei diese Entwicklung nicht Produkt der Eroberung digitaler Welten, sondern der Konstruktion des organischen Körpers durch kulturelle Prozesse. Was als weiblich oder männlich gilt, sei nicht einfach geprägt durch die bloße Genitalität – es ist bedingt durch historisch wandelbare Werte, durch die zunehmende Austauschbarkeit einst geschlechtsspezifischer Kleidung und durch den Wandel gesellschaftlicher Positionen, die ehemals die Domäne nur eines Geschlechts war. Für Hegener führt diese „Erosion des Geschlechts“ zu einem Jenseits der Geschlechterdifferenz. In diesem Jenseits sei etwa das Mannequin zu finden – an ihm entdeckt er nämlich eine Hülle, die nichts mehr zu verdecken scheint. Der geschlechtliche Körper tritt zurück, wichtig sei nur noch die Zurschaustellung sexueller Reize. In seiner Unberührbarkeit ist er dennoch vollends sexualisiert, und doch bleibt nichts von ihm übrig als lediglich die reine Projektionsfläche, auf der die Gesellschaft ihre Wünsche und Phantasmen aufträgt.
Der Körper auf dem Weg zu einem Indifferenzpunkt, wo das biologische Geschlecht zurücktritt und verschwindet? Auch für die in New York lehrende Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken scheint sich diese Entwicklung bereits eingestellt zu haben. Zwar konnte sie nicht einsehen, daß der Weg in die „vaterlose Gesellschaft“ (Freud) gleichbedeutend mit der Auflösung des Patriarchats und mit dem Übergang in die Gesellschaft der Brüder und Schwestern ist. Gleichwohl meinte sie den Geschlechterwandel an gesellschaftlichen Tendenzen festmachen zu können, die eher unvereinbar mit der herkömmlichen patriarchalen Herrschaft sind. Noch Rousseau habe die Verkommenheit der Menschen auf die „Liederlichkeit der Frauen“ zurückgeführt, die die Männer durch ihre Maskerade becircen. Deshalb müsse man die Frauen, die Meisterinnen in der Anwendung künstlicher Effekte, auf die Schmucklosigkeit ihrer natürlichen Scham verweisen, um damit die Grenzen der sexuellen Differenz zu sichern. Nur dann fühle sich der Mann sicher. Nun aber, da die Grenzen zwischen den Geschlechtern immer brüchiger werden, habe sich eine neue Ordnung der Geschlechter durchgesetzt. Aus der Tatsache, daß in den achtziger Jahren ein grobschlächtiger Westernheld die Werte der amerikanischen Gesellschaft geprägt hatte und nun ein Präsident die Amtsgeschäfte innehat, zu dessen Markenzeichen der unverwechselbare Entengang und die makellos gestylte Frisur gehört, schloß Vinken, daß die eindeutige Zuschreibung geschlechtsspezifischer Werte mehr und mehr haltlos geworden sei.
Heute hingegen sei die Mimikry die Antwort auf die einst festgefügte sexuelle Differenz. Die vormals von Natur aus dem Mann oder der Frau zugewiesenen Positionen werden längst nicht mehr als verbürgt angesehen. Die Festgefügtheit der Positionen ist im Verlauf eines Wertewandels durch ihre freie Wählbarkeit ersetzt worden. Was innerhalb unserer Zivilisation als männlich oder weiblich angesehen wird, erscheint einmal mehr als Produkt kultureller Prozesse. Und weil die Natur im Zuge dieser Entwicklung nicht mehr vom Künstlichen unterscheidbar wird, müsse man, so der Kasseler Medienwissenschaftler Christoph Tholen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vollkommen neu deuten: nicht nur habe die „Haltlosigkeit der Geschlechterdifferenz“ die gesellschaftlichen Strukturen mitsamt der patriarchalen Ordnung zersetzt, sie habe auch eine neue Theatralik unter den Geschlechtern entworfen. Plötzlich seien wir nämlich Zuschauer und Akteure einer „Komödie der Geschlechter“.
Ulrich Müller (Kassel) tat gut daran, gegenüber dieser harmonistischen Geschlechts- und Gesellschaftsanalyse daran zu erinnern, daß die so gern in der Politik gebrauchten familiaren Metaphern nichts anderes als hohle Phrasen sind. Denn die so oft beschworene deutsch-deutsche Geschwisterliebe habe in der Realität nur Wut und Trauer hervorgebracht. Man erwartet Erlösung in der Gemeinschaft, in der Geschwistergesellschaft, aber man verkennt, daß diese Redeweisen nur Illusionen und Phantasmen aufsitzen. Dieser Zustand produziert Paradoxien, die einerseits den Glauben an einen Wertekonservatismus befördern, andererseits jedoch unausweichlich den Tod der Familie herbeiführen, der diesem Konservativismus das Fundament entzieht.
Es gilt sich diesen Paradoxien zu stellen. Die „Wahl“ liegt hier zwischen einer sich technokratisch durchsetzenden elternlosen Gesellschaft und einer Erlösungsphantasien aufsitzenden (Brüder-)Gemeinschaft. Es ist eine Wahl ohne Subjekte, denn auch die archaischen Ideologien, die uns die intakte Familie und die unverbrüchliche Gemeinschaft versprechen, setzen sich hinter dem Rücken der Subjekte durch. Auf dem Kreuzungspunkt dieser Tendenzen muß sich eine „Ethik des Widerstands“ entwickeln. Verlangt ist die Phantasie und Sensibilität der Individuen gegenüber den Regulierungsversuchen einer Disziplinargesellschaft. Verlangt ist ebenso, den Versuchen einer Retabuisierung, der Herausforderung des starken Gesetzes zu widerstehen.
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