■ Neu im Kino: "Die Reise": O Wandersmann!
Neu im Kino: „Die Reise“
O Wandersmann!
Fort, nur fort, denken wir selber bald. Da hat uns der Film schon Kopfsausen gemacht mit all seinen stürzenden Perspektiven und gähnenden Fluren und fliehenden Fluchten. Spottgeburten sehen wir, wie sie schnarchenden Schülern Unterricht erteilen, bis es Styropor schneit, unsichtbare Raubtiere grollen aus dem Hintergrund, und die Kamera zwingt unsern Blick von links oben nach rechts unten und steil um die Ecke durch verrottende Zimmer und Kämmerchen, durch Säle und Hallen, bis kein rechter Winkel mehr auf dem andern bleibt. Schon schlingert die ganze Insel, dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, und die Geliebte des maßlos jungen Helden macht ihrer Schwangerschaft ein Ende; jetzt kann auch ihn nichts mehr halten.
Aus solcher Wirrsal schickt der argentinische Regisseur Fernando Solanas („Sur“) seinen Helden auf die alte Suche nach dem wirklichen Vater, der so fern ist wie trostreich, und „Die Reise“ beginnt, die große. Sie führt durch Wüsteneien und über Dörfer, durch Wälder und über Schlammstraßen, ja durch den ganzen lateinamerikanischen Kontinent, wie es sich gehört für die Reise der Reisen, für die größte der Metaphern seit dem „Cherubinischen Wandersmann“. Alles hat in diesem wunderlichen Roadmovie was zu bedeuten, alles was zu auszusagen, wenn nicht lauthals zu verschweigen wie das himmlische Mädchen am Wegesrand. Ja, an „Wegesrand“ denkt man längst statt an „Straßengraben“, so hält einen die Bedeutsamkeit gefangen. Am schreiendsten sind all die ruinösen Mauern stumm; voller Schwermut leben sie dahin, weil sie nichts mehr vor sich haben als das Einstürzen. Schon verstanden: So schlecht steht es um Lateinamerika!
Bald geht die Reise per Boot weiter, weil alles Land überschwemmt ist (!) und das Wasser den Leuten bis zum Hals steht (!) - ab hier wird's leider oft vollends kritisch, ja kabarettförmig, bis uns wahrhaftig ein paar Fernsehleute eine Modenschau vortanzen für Gürtel (!) „zum Engerschnallen“. Das ist Anprangerungskino und so schnell vergessen wie kapiert.
„Die Reise“ könnte immerhin einem künftigen großen Film als Materialsammlung dienen. Kalkül und Bildermacht, Comicformen und satirische Einlagen, Plädoyers und Wunder treten sich hier auf die Beine. Es ist kein reicher, aber ein überreicher Film. Er huldigt der Zauberkraft des Hosentaschensammelsuriums: Landschaftsbilder ziehen vorbei von gotteslästerlicher Schönheit, leibhaftige Allegorien kreuzen die Route, ein stockblinder Lastwagenfahrer, ein schwimmender Großvatersarg, alles dem jungen Reisenden ein großes Rätsel, alles aber irgendeiner Geschichte dienlich, die sich spätestens ein andermal erzählen läßt. Manfred Dworschak
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