: Somnamboulevard – Zur Goldenen Sprachlogik Von Micky Remann
Schließlich entschieden sich diese Leute, die in ihrem Kanu ziemlich verloren auf dem Ozean herumschwappten, eine bestimmte Richtung anzusteuern und alle anderen nicht, taten dies im guten Glauben an ihren inneren Navigator und näherten sich wahrhaftig einer Insel.
In vieler Hinsicht kam ihnen die sogar vertraut vor, was sie beruhigte; andererseits mußten sie feststellen, daß sie sich ihrer gewohnten menschlichen Gestalt gegenüber immer unvertrauter wurden, was sie bekümmerte. Konkret: Sie waren auf einen dieser rückläufigen Zeitströme geraten, wo du mit jedem Paddelschlag einen Tag jünger wirst. Gestartet waren sie als rüstige Männer und Frauen, jetzt aber verwandelten sie sich, je näher sie der Insel kamen, und das wollten sie, in Teeniegirls und Lausebuben. Damit war nicht Schluß. Das letzte Stück plätscherten sie lallend im Vorschulalter dahin, und als sie endlich an jenem vage heimischen Strand anlegten, hatten sie sich auf das Alter von Wickelkindern zurückverjüngt.
Die Insel hieß Helgoland, wo sich übrigens die Schwiegermutter des Hamsterfutterverkäufers gerade auf Sommerfrische befand, doch das juckte die Seebabys wenig.
Das einzige, was sie dachten war: „What the Hell, let's go to land!“ Auch wenn sie weder gehen noch stehen konnten.
Wie jeden Tag suchte die Schwiegermutter die Küste wieder nach gestrandetem Rauschgift ab, weshalb ihr Erstaunen verständlich wird, als sie den Bauch jenes hoffnungsvoll lädierten Kanus statt mit einer Tonne schwarzem Afghan mit einer Riege großäugiger Säuglinge gefüllt fand.
Nicht nur für die Urlauberin war das ein Rätsel, auch die betroffenen Säuglinge selbst wunderten sich nicht schlecht über ihre unverhofft gewandelte Lage, zumal sie nun auch des Umstands gewahr wurden, daß sie außer Wimmern und Quieken keine Möglichkeit hatten, verbal auf sich aufmerksam zu machen.
Das einzige, was sie von anderen Babies unterschied, war, daß ein Teil von ihnen noch eine gewisse Erinnerung an das Erwachsensein von vorhin besaß. Doch wozu ist das gut, wenn alle neuronalen Verbindungen dieser Erinnerung zum Sprachzentrum gekappt sind?
Die Intellektuellen unter den Babies nutzten das Dilemma, um sich sprachlos bewußt zu machen, daß ja jedes frühkindliche Sprachlernen ohne ein präexistierendes Sprachbewußtsein gelingt, indem beides im kognitiven Blindflug aus dem Dunkel des Unbewußten wächst. Würde das bei ihnen auch ein zweites Mal klappen? Fragten sie sich, jetzt da sie dermaßen ohne Sprache und Logik dalagen, daß sie diese Frage noch nicht einmal stellen konnten? Statt dessen krähte ihr hyperjuveniles Unbewußtes um so lauter, je transparenter ihnen ihr Schicksal wurde.
Gleichzeitig waren sie klug genug, sich in die wunderbare Rettung zu fügen, denn die Schwiegermutter hatte im Gasthaus Zur Goldenen Sprachlogik seit heute das große Kinderzimmer mit der Südseemotivtapete angemietet. Dort warten nun die Findelleute auf den nächstbesten Wachstumsschub und genießen derweil, nach Herzenslust gebadet, gepudert, geölt, geknufft und sonstwie säuglingskompatibel stimuliert zu werden.
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