: Die blutigen Schatten deutscher Vergangenheit
Theodor Oberländer, Bevölkerungsexperte, Vordenker der Vernichtung, Offizier in der Todesschwadron „Nachtigall“ und Ex-Bundesminister, bemüht immer noch die Gerichte gegenüber der historischen Wahrheit ■ Von Christian Semler
„Die Täter sind halt langlebiger als die (überlebenden) Opfer“ – auf keinen der alten Nazis trifft diese Feststellung des Juristen Schmitt-Lermann so offenkundig zu wie auf Professor Theodor Oberländer, einst Bevölkerungsexperte im Dienste der nazistischen Endlösung, dann, bis zu seinem erzwungenen Rücktritt 1960, Bundesvertriebenenminister Adenauers. Alle, die an die Hölle glauben, wähnten ihn längst in deren siebtem Kreis. Irrtum. Der 88jährige verzehrt weiterhin seine Ministerpension in Bonn und geht der Hauptaufgabe seines letzten Lebensabschnitts nach: diejenigen mit Klagen zu überziehen, die Licht in seine verbrecherische Biographie bringen wollen.
Vordenker der Vernichtung
Das bekamen jetzt auch die Historiker Susanne Heim und Götz Aly zu spüren. Die beiden verdienten Zeitgeschichtler und (leider nur sporadischen) Mitarbeiter der taz hatten in ihrer Arbeit „Vordenker der Vernichtung“ nicht nur Oberländers Gedankenarbeit bei der nazistischen „Landnahme“ in Osteuropa gewürdigt. Sie gingen darüber hinaus auch auf einen konkreten Tatbeitrag des Professors ein, der bereits seit einem Menschenalter die Gerichte in Deutschland beschäftigt hat: den Massenmord an den Juden Lwóws (Lembergs) nach der Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht Ende Juni 1941. Als vor zwei Jahren Alys und Heims Arbeit in gebundener Form erschien, war Oberländer und seinem Anwalt die Behandlung dieser „Episode“ offensichtlich entgangen – jetzt, wo das Werk als Taschenbuch bei Fischer herausgekommen ist, verlangten sie die Tilgung folgender Passage: „Eine der ersten deutschen Truppeneinheiten, die in Lwów einfielen, war das von Theodor Oberländer befehligte Bataillon ,Nachtigall‘. Das Bataillon richtete ein Blutbad unter der Bevölkerung an und schürte gemeinsam mit der Sicherheitspolizei Pogrome, an denen sich in den folgenden Tagen und Nächten viele Einwohner Lembergs beteiligten. Mehrere tausend jüdische Menschen fielen diesem Massaker zum Opfer.“ Das Bonner Landgericht entschied im Mai 1993 per einstweiliger Verfügung, daß die genannten Sätze nicht weiterverbreitet werden dürfen. Das Hauptverfahren ist noch anhängig.
Gemessen an dem fabrikmäßig betriebenen, bürokratisch durchorganisierten Massenmord, dem die europäischen Juden zum Opfer fielen, mag das Lemberger Pogrom wie ein unbedeutender, ja untypischer „Vorläufer“ erscheinen. Aber seine Vorgeschichte, sein Verlauf und seine Nachwirkungen enthüllen uns ein Bild von grausiger Aktualität. Wir werden belehrt, wie gering der Abstand ist, der planmäßig erzeugten Haß von seiner Konsequenz, der mörderischen Aktion, trennt, und wie leicht es den Anstiftern fällt, sich später der Verantwortung zu entziehen. Theodor Oberländer war zuerst Assistent, später, nach der „Machtergreifung“, Professor an einem Institut der Universität Königsberg, das sich der „Ostforschung“ widmete. Der überzeugte Nazifaschist (er hatte 1923 am Marsch auf die Feldherrenhalle teilgenommen, ehe er sich vorübergehend mit dem „System“ arrangierte), widmete sich dem Studium der agrarischen Überbevölkerung. Sein Studienobjekt zu jener Zeit war Polen. Für Wissenschaftler seines Schlages war es klar, daß die Krise in unterentwickelten, landwirtschaftlich geprägten Ländern nur behebbar sein würde, wenn für den „toten Ballast“, also die seiner Meinung nach überzähligen ländlichen Arbeitskräfte, ein „Abzug“ geschaffen würde. Was aber, wenn nicht genügend Kapital zur Verfügung stand, um den „Ballast“, zu dem auch und vor allem die jüdische Bevölkerung des „Schtetl“ zählte, in neuen Industrien als Arbeitskräfte zu beschäftigen? Oberländer zeigte kaum verhohlene Bewunderung für den Lösungsweg, den die Bolschewiki mit der Zwangskollektivierung und dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeit eingeschlagen hatten – eine Extravaganz, die ihm 1937 ein (freilich rasch niedergeschlagenes) Parteiverfahren eintrug.
Für das Deutsche Reich zog Oberländer aus seinem Theorem ländlicher Überbevölkerung die logische Schlußfolgerung: Dem deutschen Bauern mußte im Osten eine neue „Scholle“ gewonnen werden. 1940, nach der Aufteilung Polens, schrieb er: „Deutsch sind die neuen Ostgebiete, völkisch erst dann, wenn der letzte Quadratmeter von deutschen Menschen, die in diesem Gebiet bodenständig sind, bebaut wird.“ Menschen „fremden Bluts und Volkstums“ konnten neben dieser neuen, „bodenständigen Herrscherschicht“ nicht geduldet werden.
Eine Frage der Methode
Mit der Ostexpansion samt ihren unausweichlichen mörderischen Folgen war Oberländer also einverstanden. An der Vernichtung der Juden fand er nichts Tadelnswertes. Was ihn von Hitler und Himmler trennte, waren Fragen der Methode. Wie viele der Nazi- Ostexperten träumte der Königsberger (später Prager) Professor davon, die Völker des Ostens vom russischen Imperium abzutrennen und in den Rang von Vasallenstaaten des Reiches nach dem Vorbild der Slowakei oder Kroatiens zu erheben. Dieser Linie folgend, setzte sich Oberländer vor allem für das Projekt einer Verselbständigung der Ukraine ein. Der Plan hatte bei Hitler keine Chance, aber ein Gegner des „Führers“, der Chef der Abwehr Canaris, war ihm gewogen. Als nach Abschluß des Nichtangriffspaktes deutsche Truppen das westliche Polen besetzten, sah Oberländer seinen Weizen blühen.
Seit der völkische Nationalismus im 19. Jahrhundert Osteuropa heimzusuchen begann, tobte im (damals österreichischen) Lemberg und in Galizien der „Volkstumskampf“ zwischen Ukrainern und Polen. Lemberg selbst war zu zwei Dritteln von Polen, zu einem Drittel von Juden bewohnt, in der ländlichen Umgebung der Stadt lebten überwiegend Ukrainer. Letztere fanden sich nie damit ab, daß Galizien zum wiedererstandenen Polen geschlagen worden war. Die Nationalitätenpolitik Pilsudskis gab ihnen auch wenig Veranlassung, ihre Überzeugungen zu ändern. Nach dem Hitler-Stalin- Pakt rückten sowjetische Truppen in Lemberg ein – von manchen Vertretern der jüdischen Intelligenz voreilig als Retter begrüßt, von Polen und Ukrainern gleichermaßen abgelehnt. Wie in den anderen Gebieten östlich des Bug hielt der sowjetische Sicherheitsdienst blutige Ernte. Klassenfeinde und unzuverlässige, bürgerliche Elemente verschwanden im Gefängnis oder wurden ins Innere des Reiches verschleppt. Nicht nur polnischer, sondern auch ukrainischer Widerstand formierte sich. Von beiden Volksgruppen wurden die Juden pauschal als Kollaborateure verdächtigt.
Das war die Lage, als sich die „Abwehr“ entschloß, eine Eliteeinheit aus ukrainischen Nationalisten westlich des Bug mit dem schönen Namen „Nachtigall“ aufzustellen. Der Überfall auf die Sowjetunion war bereits beschlossene Sache. Die Ukrainer in deutscher Wehrmachtsuniform (mit den gelb-blauen Landesfarben am Revers) sollten nicht kämpfen, sondern die Stimmung gegen die „jüdisch-bolschewistischen“ Unterdrücker anheizen. Entgegen der eidesstattlichen Erklärung, die Oberländer zuletzt im einstweiligen Verfügungs-Verfahren gegen Aly und Heim abgegeben hat, war er von Anfang an an der Aufstellung des Bataillons und dessen Training beteiligt. Er war zwar nicht dessen militärischer Kommandant, aber das war bei dieser Einheit lediglich eine formelle Funktion. Oberländer war der tatsächliche Führer der Truppe, ihr „politischer Kommissar“. Wenn Heim und Aly daher in der inkriminierten Passage schreiben, Oberländer habe das Bataillon befehligt, so entspricht diese Charakterisierung den Tatsachen. Im übrigen hat Oberländer in der zitierten Erklärung selbst ausgeführt, daß er das Bataillon in Lemberg „bei Kontrollgängen ständig überwachte“, mithin auch Kommandofunktionen ausfüllte.
Das Lemberger Pogrom
Das Lemberger Pogrom und die Rolle, die das Bataillon „Nachtigall“ bei seiner Entfesselung gespielt hat, waren nach dem Krieg Gegenstand von Gerichtsverfahren in beiden deutschen Staaten – die Wahrheit wurde zur Manövriermasse im Kampf der Systeme. Vor dem Obersten Gericht der DDR wurde Oberländer in Abwesenheit des Mordes angeklagt und zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Ein kurze Zeit später von der Bonner Staatsanwaltschaft eröffnetes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, weil sich gegen Oberländer kein Tatverdacht ergeben habe. Auch wenn man nur die Zeugen berücksichtigt, die vom Bonner Staatsanwalt vernommen wurden, ergibt sich ein klares Bild der Ereignisse. Angehörige des Bataillons „Nachtigall“ waren nicht nur an der Verhaftung jüdischer Bürger Lembergs beteiligt. Sie nahmen auch an den bestialischen Mordtaten teil, die im Stadt-, im Militärgefängnis sowie im ehemaligen Gefängnis des sowjetischen Sicherheitsdienstes verübt wurden. Mehrere der vernommenen Zeugen bekundeten darüber hinaus, daß deutsche Offiziere die Morde befahlen oder zumindest zu ihnen aufstachelten. Oberländer bot in dem Bonner Verfahren eine große Zahl persönlicher Entlastungszeugen auf, deren Aussagen bemerkenswert aufeinander abgestimmt waren. Der Staatsanwalt folgte diesen Entlastungen, konnte aber nicht umhin festzustellen, daß Angehörige des Bataillons „Nachtigall“ wahrscheinlich „am Tod zahlreicher Juden Lembergs schuldig sind“ – aber Oberländer habe von diesen Verbrechen nichts gewußt.
Umgekehrt reichten die Aussagen überlebender Opfer dem Obersten Gericht der DDR zum Schuldspruch. Was das Bataillon „Nachtigall“ und seine Bluttaten anlangt, gab es im Ergebnis zwischen den Berliner und Bonner Feststellungen keinen großen Unterschied. Den DDR-Richtern ist es jedoch nicht wirklich gelungen, Oberländer einen konkreten Tatbeitrag nachzuweisen. Daran hinderte sie die politische Konstellation des Verfahrens. Das Gericht konnte keine Zeugen befragen, die ausgesagt hätten, daß unmittelbar vor der Eroberung Lembergs durch die Deutschen der sowjetische Sicherheitsdienst NKWD einige tausend meist nationalistisch gesinnte Ukrainer umgebracht hatte, deren Leichen bei Ankunft der Wehrmacht noch im Hof und den Gängen des NKWD-Gefängnisses herumlagen. Diese Zeugen konnten deshalb auch nicht bekunden, daß von deutscher Seite aus mit ständig neuen Enthüllungen die Soldaten des Bataillons „Nachtigall“ und die ukrainische Bevölkerung zu Mordtaten an jüdischen Bürgern angestachelt wurden – auf Flugblättern und Plakaten, aber auch durch Ansprachen an die „Truppe“, mithin durch Aktionen, die im Aufgabenbereich Oberländers lagen. Er war es, der vor Eintreffen des deutschen Sicherheitsdienstes als Mann der Abwehr zuständig war, und es ist klar, daß er diese Zuständigkeit wahrnahm.
Trotz intensiver Bemühungen Oberländers ist von westdeutschen Gerichten zwar entschieden worden, daß das DDR-Urteil nicht vollstreckbar sei, aber es wurde abgelehnt, es als nichtig zu erklären, und über die Kassation ist bisher nicht befunden. In einem früheren Verfahren Oberländers gegen den Journalisten Engelmann war diesem lediglich aufgegeben worden, die Feststellungen des Urteils durch eigene Recherchen zu erhärten. Götz Aly und Susanne Heim haben sich dieser Aufgabe unterzogen und den Schuldspruch der DDR-Richter durch zusätzliches Belastungsmaterial abgesichert. Schon aus formalrechtlichen Gründen wären sie berechtigt gewesen, von Oberländers strafrechtlicher Verantwortung zu sprechen. Statt dessen haben sie in der inkriminierten Passage nur festgestellt, daß das Bataillon „Nachtigall“ in Lemberg Verbrechen begangen hat und daß Oberländer es befehligte.
Warum die Intransingenz?
Warum hat Oberländer nie die goldene Brücke betreten, die die Bonner Staatsanwaltschaft ihm baute? Warum sagt er nicht, daß die ihm unterstellten ukrainischen Soldaten in deutscher Uniform sich spontan zu Racheaktionen hinreißen ließen, von denen er keine Ahnung hatte und die er selbstverständlich nachträglich verurteilt? Warum beharrt er noch in seiner eidesstattlichen Aussage vom 25. Mai 1993 darauf, daß die Angehörigen des Bataillons „Nachtigall“ „zu keinem Zeitpunkt eigenmächtige beziehungsweise völkerrechtliche Handlungen begingen“? Die Schwierigkeit, die sich Oberländer durch diese Haltung einhandelt, ist offensichtlich: Entweder haben alle Zeugen gelogen, die Angehörige des Bataillons als Täter identifizierten (was nicht einmal die Justiz der BRD unterstellte), oder die Zeugen erinnerten sich richtig. Dann ist Oberländer schuldig. Denn er wird nicht müde zu betonen, daß er die Angehörigen der Truppe unter ständiger Kontrolle hatte und nichts ohne seine Zustimmung geschah. Wahrscheinlich hängt diese Intransingenz mit der Rücksichtnahme auf die spätere Karriere einer Reihe der mit Oberländer befreundeten und mit Hitler kollaborierenden ukrainischen Nationalisten zusammen: über die Armee des pronazistischen ukrainischen Generals Wlassow, wo Oberländer sich ebenfalls einfand, gelangten sie zur Spionageorganisation „Fremde Heere Ost“ des Generals Gehlen und von dort auf geradem Wege zum Bundesnachrichtendienst.
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