: Enter an American, Exit a Jew
Die „Amerikanisierung des Holocaust“ hat mit einem „Shoah-Business“ herzlich wenig zu tun, auch wenn das die hierzulande gemütlichste Annahme ist. Die Geschichte soll neu erzählt werden ■ Von Mariam Niroumand
In Philip Roths neuestem Roman „Operation Shylock“ erfährt ein von Nervenkrisen zerrütteter amerikanischer Schriftsteller namens Philip Roth, daß ein Double gleichen Namens und Aussehens sich in Jerusalem dafür stark macht, die aschkenasischen Juden wieder nach Europa zurückzubefördern. „Diasporismus“, so sieht es der Doppelgänger, sei der einzige Schutz vor einem erneuten Holocaust, der sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, in Israel abspielen wird. „Die Missiles aus Damaskus zielen nicht auf die Warschauer Innenstadt, sondern direkt auf die Dizengoffstraße in Jerusalem. Sie werden mir doch wohl zustimmen, daß ein Jude heute sicherer durch Berlin spaziert als unbewaffnet durch die Straßen von Ramallah.“ Und woher soll das Geld für den Exodus kommen? Von der PLO? Nein, sagt Roth zu Roth: „das funding kommt von amerikanischen Juden, die jahrzehntelang enorme Summen für das Überleben eines Staates gespendet haben, mit dem sie nichts als eine höchst abstrakte, sentimentale Verbindung haben.“
Roth, der Ich-Erzähler, fährt daraufhin ebenfalls nach Jerusalem, um Roth, dem fake, von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Als er in Jerusalem eintrifft, ist der Prozeß gegen John Demjanjuk, dem vermeintlichen „Ivan der Schreckliche“, ukrainischer Killer aus Treblinka, in vollem Gange. Die Strategie seiner Anwälte, so beobachtet Roth, besteht darin, ihren Mandanten für einen liebenden Großvater, einen dummen, harmlosen Mr. Nobody aus Ohio zu präsentieren, der Kriegsgefangener war und von einem Lager in Treblinka nicht mehr wußte als die Kuh auf der Wiese seines amerikanischen Nachbarn. Auf der Empore beobachtet Roth zwei israelische Teenager, die sich zu Tode langweilen, und konstatiert beruhigt, daß sie sich wahrscheinlich schon am Nachmittag nicht mehr an Demjanjuks Namen erinnern werden.
Obwohl Roth, der Autor, Hannah Arendts Bericht vom Prozeß gegen Adolf Eichmann mit keinem Wort erwähnt, ist es doch „The Banality of Evil: A Report“ (1963), zu dem sich der Kreis schließt. Wie damals geht es um die Selbstdefinition des jüdischen Staates angesichts eines Verbrechens gegen die Menschheit, das am jüdischen Volk verübt wurde. Es geht um das Verhältnis zwischen Israel und der (amerikanischen) Diaspora, um die Natur des „Bösen“, und im weitergehenden Sinn um die Frage jüdischer Identität, nachdem ein Drittel des jüdischen Volkes, achtzig Prozent aller Rabbiner und neunzig Prozent aller Vollzeit-Studenten der Tora vernichtet worden waren und die Assimilation in westlich aufgeklärten Gesellschaften in einer Todesmaschinerie geendet hatte.
Offen wie kein anderer Roman Roths spricht „Operation Shylock“ von der widerwilligen Liebe linker amerikanischer Juden zu Israel, von ihrer inneren Verdoppelung in einen Kritiker des real existierenden Zionismus, und einen, dem nichts so gewiß ist wie die Notwendigkeit eines jüdischen Staates eben wegen des Holocaust. In einen, der sich ein bißchen schämt, in New York vor den Missiles aus Damaskus sicher zu sein, und den anderen, für den diese Entfernung nicht mehr als recht und billig ist. Dies schillernde Spiel mit der Identität des schwächlichen, nervösen Diaspora-Juden, als den Roth zunächst, im Einklang mit israelischer Ikonographie, den Autor Roth darstellt, und dem „tough jew“, den sein Doppelgänger in Israel markiert, hat nichts mit postmodernen literarischen Fingerübungen zu tun. Es geht, wie gesagt, um Identität: Kann man, entgegen anderslautender israelischer Behauptungen, Jude sein in der Diaspora, ohne Zionist zu sein? Hat Israel ein Monopol auf die Erinnerung an den Holocaust? Gibt es eine spezifisch amerikanisch-jüdische Erinnerung daran?
Der Spiegel hat, in typisch kurzatmiger, auf schnelle, leichtverdauliche Skandalons geilender Manier, die Frage, warum plötzlich in den USA die Holocaust-Memorials und Museen aus dem Boden schießen, mit einem flott zusammengebrauten Cocktail aus amerikanischer Großmannssucht, dem schlechten Gewissen amerikanischer Juden und ihrem Geschäftssinn erklärt, der auch vor dem „Shoah-Business“ nicht haltmache. Damit war die Diskussion hierzulande einstweilen beendet.
Ein schlechtes Gewissen?
Fast zwei Jahrzehnte nach Kriegsende herrschte in den USA Schweigen über den Holocaust, nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der jüdisch-amerikanischen Öffentlichkeit. Abraham H. Foxman, Funktionär von B'nai Brith, erzählte einer Reporterin der New York Times:“ Wenn ich zurückblicke, glaube ich, daß die Überlebenden sich schuldig fühlten für das, was sie erlebt hatten. Es war ihnen peinlich. Aber ihre Isolation wurde von den Nachbarn noch verstärkt. Sie erwarteten, daß wir aussahen, als kämen wir geradewegs aus einem Lager, ausgehungert und verwundet. Sie deuteten an, sie hätten gern gewußt, was wir durchgemacht hatten, aber in Wirklichkeit wollten sie das lieber nicht wissen.“ Schlechtes Gewissen? „Die Juden hatten nicht die Macht, mehr zu tun“, schreibt der Historiker Arthur Hertzberg, „es gab jede Menge öffentlicher Protestaktionen während des Krieges ... aber die wichtigsten jüdischen Organisationen waren zerstritten. Während die Orthodoxen, also diejenigen, die noch die meisten Verwandten in Osteuropa hatten, den britischen Boykott der von den Nazis besetzten Gebiete unterliefen und Geld hinschickten, wollten die Zionisten die Hauptanstrengung auf eine Immigration nach Palästina richten – nicht nach Amerika.
Hertzberg und andere behaupten, daß es gerade die Nachfahren deutscher jüdischer Immigranten des 19. Jahrhunderts waren, die für die zionistische Lösung votierten, um ihre Assimilation nicht von osteuropäischen, gläubigen Juden gefährden zu lassen. Präsident Roosevelt schließlich tat seinerseits nicht eher etwas, als bis der Sieg sicher war. Daß die amerikanischen Juden aber, wie vom Spiegel behauptet, mitsamt der übrigen Bevölkerung „uninteressiert abseits gestanden hätten“, ist, gutmütig interpretiert, eine Fehlinformation.
Das Schweigen wurde erst durchbrochen, als die fünfziger Jahre mit ihrem Assimilationsdruck und den Prozessen gegen die Rosenbergs vorbei waren. Der Eichmann-Prozeß 1961, die Veröffentlichung von Elie Wiesels „Nacht“, Bruno Bettelheims psychoanalytischer Betrachtung der Lagermentalität, Sartres Appell für ein authentisches Judentum, das sich dem Universalismus verweigert, und Hannah Arendts Kritik an der Instrumentalisierung des Holocaust für die Legitimation des jüdischen Staates eröffneten eine komplizierte Diskussion, die bis heute andauert und mit der vorwitzigen Keckheit vom „Shoah-Business“ eben nur für schlichtere Bedürfnisse beschreibbar ist.
„Jewishness“ wird politisch korrekt
Ein merkwürdiges Phänomen setzte dann mit den späten Sechzigern ein: In dem Ausmaß, in dem ethnicity nicht nur toleriert, sondern sogar Hollywood- und Broadway-tauglich wurde, avancierte auch jewishness zum repräsentablen Merkmal. Dabei entstand allerdings ein merkwürdig christlich eingefärbter jüdischer Typus: Wie die „guten“ Schwarzen im Hollywoodfilm Weiße waren, waren die repräsentablen Juden vor allem gute Amerikaner. Wer Millie Perkins als Anne Frank, Paul Newman in „Exodus“, Kirk Douglas in „Cast a Giant Shadow“ oder Judy Garland in „Judgement at Nuremberg“ gesehen hat, wundert sich nur noch ein ganz kleines bißchen, daß es ausgerechnet Meryl Streep war, die dann zehn Jahre später eine der Hauptrollen in der berüchtigten TV-Serie „Holocaust“ zu spielen bekommt. Die Juden, ob Opfer des Holocaust oder Kämpfer für Israel, erscheinen als Märtyrer der guten, der amerikanischen Sache, als everyman, der stellvertretend für die gesamte Menschheit gestorben ist – eine der amerikanischen Christenheit wohl bekannte Figur. Der Sechs-Tage- Krieg 1967 tat ein übriges, amerikanische Juden einerseits selbstbewußter, andererseits auch sich mit Israel verbundener fühlen zu lassen. Beides isolierte sie unmerklich von der moral majority.
Sonderstatus oder Universalität?
Es liegt auf der Hand, daß es genau dieser Konflikt zwischen Universalismus und jüdischem Partikularismus ist, der um die großen Museumsprojekte erneut entbrannt ist. In Amerika, wo die Trennung zwischen Staat und Kirche Verfassungsrang hat, erhält keine Institution öffentliche Unterstützung, wenn sie nicht in irgendeinem allgemeinen Interesse handelt. Deshalb, und nur deshalb, heißt das Holocaust-Museum in Los Angeles „Museum of Tolerance – Beit Hashoah“. Es besteht, bekanntermaßen, aus zwei Flügeln: Einem interaktiven, in dem man an Videotowers herumspielen, die Geschehnisse vor den riots Revue passieren und sich auf die eigene ethnische Säuberungswilligkeit testen lassen kann (selbstverständlich erscheinen die Konflikte stets nur als ethnische, als Anforderungen an die Toleranz, nie im mindesten materiell begründet). Dann ist es aber vorbei mit der Interaktivität, wenn man nämlich in den zweiten, den „Holocaust-Flügel“ eintritt:
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„Watch your step!“ Türen fliegen einem ins Gesicht und schließen sich unerbittlich; und erst, wenn die Gruppe (man kann nicht als Einzelperson durchgehen) ihre Lektion gelernt hat, wird man mit eiserner Hand weitergeführt. Grell leuchten die Hakenkreuzfahnen, das Ohr dröhnt vom Widerhall der Stiefeltritte. Europa erscheint als dark continent, als gothic novel, kein Tageslicht dringt in diese Hallen, die in einzelne kleine Szenarios unterteilt sind. Eins davon ist das Café Kranzler, in dem wie einbandagiert Gipspuppen sitzen, die sich nach der Machtübernahme der Nazis über ihre Perspektiven unterhalten. Was aus ihnen wurde, sagt uns eine nicht lokalisierbare Stimme aus dem Himmel. Was aus dem Kind wurde, dessen „Paß“ wir in den Händen halten, und dem wir uns immer ähnlicher fühlen, je entmündigender und einschüchternder uns die Stimme durch die Gänge führt, erfahren wir aus einem allwissenden Computer am Schluß der Ausstellung. (Im Washingtoner Museum erhält ein Besucher den „Paß“ von jemandem, der gleichen Alters, Geschlechts und Berufs war). Im Gaskammernachbau, dem steinernen Klimax der Erzählung, sitzen manche und mampfen einen Cheeseburger, vielleicht, weil es kaum eine andere Form gibt, sich dem Zugriff der ehernen Choreographie zu entziehen. Die auf- und zuspringenden Türen betonen, wie auch der Rest der Ausstellung, das Thema der Exklusion und Inklusion: Für Juden heißt die Message etwa: „Wir müssen jüdisch sein, weil man uns umgebracht hat“, für Nichtjuden, daß sie, wo irgend möglich, Juden unterstützen. „Da ist so ein Umkehrungsprinzip im Gange“, meinte Jonathan Rosen von der Tageszeitung Forward, „als würde man erwarten, daß die Leute als Amerikaner ins Museum hineingehen und irgendwie als Juden wieder herauskommen.“ (Auch Bill Clinton trug bei der Einweihung in Los Angeles plötzlich ein Gebetskäppchen.)
Es gibt kein „Shoah-Business“
Aber heißt das, daß Rabbi Hier, der aus dem Simon-Wiesenthal- Center mit seinen inzwischen 180.000 Mitgliedern die größte jüdische Organisation der Welt gemacht hat, aus dem Horror finanzielle Vorteile zieht? Wenn es man so einfach wäre! Rabbi Hier, das ist richtig, ist sich wohl bewußt, daß der Holocaust im Moment noch eher imstande ist, amerikanische Juden zu mobilisieren, als die Einrichtung einer jüdischen Tagesschule oder das Tora-Studium. Aber wenn er Geld für Israel sammelt und dabei den Holocaust dräuend beschreibt, so deshalb, weil es seiner und einer Menge Leute tiefster Überzeugung entspricht, daß das jüdische Volk nur dann Überleben kann, wenn es einen Zufluchtsort hat, und wenn die Diaspora auf der Hut ist. „There is an anti-Semite under every tree“ ist keine Floskel, um Spenden in seine privaten Taschen zu schaffen, sondern eine höchst vehemente Überzeugung. Die bloße Existenz Israels ist für Hier, einen orthodoxen Juden, der lebende Garant dafür, daß Gott nicht in Auschwitz gestorben ist, wie das Richard Rubenstein und andere „Gott ist tot“-Theologen in den sechziger Jahren behaupteten.
Überlebende sind begeistert
Erstaunlicherweise waren die meisten Überlebenden, mit denen ich in Los Angeles sprach, vom Museum of Tolerance absolut begeistert. Viele von ihnen machen Führungen durch das Museum und stellen den Besuchern in europäischen Akzenten ihre Erfahrungen zur Verfügung, bei denen sie zum Teil wegen sprachlicher und kultureller Brüche nicht ankommen. Da die leiseren Museen, wie zum Beispiel das gemeindeeigene „Martyr's Memorial“ in Los Angeles, dem das Wiesenthal-Center etliche Sponsoren abspenstig gemacht hat, erst recht nicht zu ihrem schwarzen oder lateinamerikanischen Publikum durchkommen, wundert einen wenig. Angeblich dringt nur der Schock, organisiert wie die Videoarkaden, zu ihnen durch. Ein bißchen Publikumsverachtung gehört schon dazu.
Während in Los Angeles also jüdische Partikularität als Garant für das Prinzip der Universalität schlechthin fungiert, ist das Museum in Washington auf größere Dignität angewiesen. Schließlich muß es beweisen, warum es mitten auf der Mall, der Museumsmeile zwischen dem Jefferson Memorial, dem Washington Monument oder dem Vietnam Wall seine Berechtigung hat. (Es hatte auch das fast dreifache Budget.) „Warum sollte ein Museum, das sich dem Holocaust widmet – einem Ereignis, das auf europäischem Boden stattfand und am Volk der Juden begangen wurde – auf der Mall beheimatet sein?“ schrieb Harvey Meyerhoff, einer der Planer, in der Washington Post. „Weil der Holocaust den Verlust der Unschuld der Zivilisation repräsentiert. Hier offenbart sich die dunkle Seite der Zivilisation, deren Fortschritte nebenan im Smithsonian Institut gefeiert werden.“
Die ganze Geschichte erzählen
Der Architekt Freed, selbst Flüchtling vor Nazideutschland, zog, nachdem er den Auftrag erhalten hatte, nach Europa, um sich ehemalige Konzentrationslager anzuschauen und deren Konstruktionspläne zu studieren. Die Fertigbauweise interessierte ihn ebenso wie die zum Teil prätentiöseren Entwürfe. Seinen eigenen ersten Entwurf verwarf die Kommission als „unfreiwilig faschistisch“, und akzeptierte einen, der sich in der Außenfassade unauffällig in das neoklassizistisch-aufklärerische Ensemble der 14. Straße schmiegt, aber innen von brutalen Stahlträger- und Glaskombinationen mit Wachtürmen, Brücken und gesprungenen Wänden bestimmt ist. Die Disjunktionen und Brüche, die von der Architektur erzeugt werden, nimmt die Ausstellung bedauerlicherweise wieder zurück, indem sie vorgibt, die ganze Geschichte bis zu ihrer Erlösung bruchlos erzählen zu können. Die kognitiven Anforderungen an die Besucher sind dabei höher als in Los Angeles, speziell in dem Raum, in dem es um amerikanische Reaktionen auf die Meldungen aus Europa geht. Diese Momente und die Befreiung der Lager durch G.I.s sind es auch, die den Holocaust zu einer amerikanischen Vergangenheit werden lassen – wenn man nicht als „amerikanische Vergangenheit“ eben die „Vergangenheit der Amerikaner“ generell gelten läßt. Jimmy Carter, der Präsident, der den Planungsausschuß des ausschließlich mit privaten Geldern finanzierten Museums ins Leben rief, betonte stets diesen Aspekt: „Obwohl der Holocaust in Europa stattfand, ist dieses Ereignis dennoch von fundamentaler Bedeutung für Amerikaner. Erstens waren es Amerikaner, die viele der Vernichtungslager befreiten ... Außerdem wurden die Vereinigten Staaten zur Heimat für viele, die überleben konnten. Zweitens müssen wir aber auch die Verantwortung gemeinsam auf uns nehmen, vor vierzig Jahren nicht bereit gewesen zu sein, öffentlich anzuerkennen, was dort vor sich ging. Schließlich fühlen wir uns, weil wir humane Menschen sind, die sich für die Menschenrechte aller Völker einsetzen, verpfichtet, die systematische Vernichtung der Juden zu studieren, so daß wir versuchen können, zu verstehen, wie man solche Katastrophen in der Zukunft verhindert.“
Linke Kritiker um die Zeitschrift Tikkun kritisierten, daß die Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner oder die Versklavung der Afroamerikaner keinen solchen, die amerikanischen Grundwerte tangierenden Stellenwert erhalte. Diese Kritik verkennt aber, daß der Holocaust nicht einfach die Eskalation des modernen Rassismus oder eine Maßnahme wildgewordenen ökonomischen Kalküls darstellt, sondern, über die Vernichtung des schlechthin Anderen die Vernichtung des Menschseins überhaupt in Angriff nahm. Insofern hat Carter, hat das Museum genauso recht wie damals Hannah Arendt: „Hätte das Gericht in Jerusalem (das Eichmann verurteilte, d.Red.) verstanden, daß Diskriminierung, Austreibung und Völkermord nicht einfach dasselbe sind, dann wäre sofort klar gewesen, daß das größte Verbrechen, mit dem es konfrontiert war, die physische Ausrottung des jüdischen Volkes, ein Verbrechen gegen die Menschheit war, verübt am jüdischen Volk, und daß nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der langen Geschichte von Judenhaß und Antisemitismus abgeleitet werden konnte.“
Making Sense
Daß man in Gedenkstätten lesen kann wie in einem Buch, diesen Gedanken hat in Amerika wohl am eloquentesten der Literaturkritiker und Judaist James E. Young und in Deutschland der Frankfurter Germanist Hanno Loewy publik gemacht, der zur Zeit selbst an der Errichtung eines Forschungsinstituts zum Holocaust in Frankfurt arbeitet. Beide gehen von der Prämisse aus, daß Erinnerung, ritualisiertes Gedenken konstitutiv für das jüdische Volk sind, und zwar seit biblischen Zeiten: „Vergessen verlängert das Exil. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“, heißt es beim Baal Selem Tov. Während die hellenistische Kultur die Geschichte beforschte, um philosophische Aufschlüsse zu erhalten, beschrieb die Bibel die Offenbarung Gottes als sein Auftreten in der Geschichte der Menschen und deren Reaktion darauf. Diese Geschichte stellte sich dar als ein stetes Wechselspiel von Katastrophe und Erlösung; der Sklaverei in Ägypten folgte der Auszug ins Heilige Land, der Flut die Arche und so weiter. Spätestens mit dem Holocaust ist diese Kette unterbrochen, auch wenn Gedenkstätten überall auf der
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Welt es anders haben wollen: Im Land der Täter wird die Erinnerung an den Holocaust inszeniert als katholischer Weiheort oder „Lernort Demokratie“ (Loewy über die Gedenkstätte Neuengamme); in Israel erscheint der Staat selbst als die Errettung aus der ohnehin zum Untergang verdammten Diaspora, als Staatsgründungs-Mythos (ebenso übrigens wie in der ehemaligen DDR); in Polen erscheinen die Juden als die Verkörperung der geschundenen polnischen Nation (Young). In Amerika lacht die Freiheitsstatue den Geretteten. So wird doch ein „schöner Tod“, ein Sinn dem Ereignis abgepreßt.
Relikte zu Fetischen
Loewy sieht in den Inszenierungen aus Koffern, Schuhen, Haaren und „Originalensembles“, wie sie in Washington errichtet wurden, einen Versuch der zweiten Generation von Überlebenden, „den Leiden der verstummten Überlebenden, die ihre Eltern waren, eine Sprache, eine narrative Kontinuität zu verleihen, sich selbst damit eine Geschichte zu geben. Und sei es um den Preis, die Authentizität der Objekte zum Fetisch werden zu lassen und den Riß in der Zeit, das lange Schweigen selbst zum Schweigen zu bringen.“ Tatsächlich ist der Handel mit Reliquien mittlerweile in ein Stadium getreten, wo Originalschauplätze in Polen demontiert und mit Plastikreplikaten ausgestattet werden, während die Originale, Friedhofstüren, Viehwaggons, etc. nach Amerika verbracht werden. The real thing muß es schon sein.
Gegen die Geschwätzigkeit, das Geplapper gerade in Los Angeles, das allerdings eher an verängstigtes Pfeifen im Wald erinnert als an irgendein kalkuliertes „Shoah-Business“, schlägt Young vor, man solle die „Konstruiertheit“ der Erinnerung, ihre Metaphorisierung gleich mitinszenieren. Loewy hingegen, dem der ethische Impuls der „Sinnverneinung“ des „Zivilisationsbruchs“ (Dan Diner) näher ist als postmoderne Debatten über Kunstwerke und Metaphern, fordert eine vor allem kognitive Annäherung an das Phänomen. Nichtexistente Handlungsoptionen der Judenräte durchzuspielen sei beispielsweise eine sehr viel radikalere Strategie als auf die bloße Identifikation zu setzen.
Der Versuch des Bundeskanzlers, sich mittels finanzieller Unterstützung in das Happy-End des Washingtoner Museums einzuklinken, (unter anderem sollten die finanziellen Zuwendungen der Bundesrepublik an Israel hervorgehoben werden), schlug fehl. Hierzulande gibt es dafür, so haben Loewy und der Fotograf Reinhard Matz gezeigt, jede Menge Gedenkstätten, die mit erschreckendem Selbstbewußtsein die jüdische Formel vom Zusammenhang zwischen Erinnerung und Erlösung für sich appropriiert haben: „Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung.“
Reinhard Matz (Fotos), „Die unsichtbaren Lager. Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken“. Mit Texten von Andrzej Szczypiorski, James E. Young, Hanno Loewy, Jochen Spielmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1993, 206 S., 29,90 DM
Hanno Loewy (Hg.), „Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte zur Besetzung der Geschichte“. Mit Texten von Lutz Niethammer, Hans Mommsen, Micha Brumlik u.a. Rowohlt Verlag, 1992, 18,90 DM
James E. Young, „Holocaust Memorials and Meaning. The Texture of Meaning“ New Haven: Yale University Press, 1993, 398 S. (Übersetzung folgt im Herbst)
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