: „Ich schaff' das schon“, sagt der mongoloide Ralf
■ Weniger Aufträge für Behinderte wegen Mercedes-Krise / Martinshof sucht Industriekontakte
Wolfgang macht nie blau. Er findet es schlimm genug, daß in den Ferien jemand anderes auf seinem Arbeitsplatz sitzt: an dem Schneidetisch mit Blick ins Grüne, an dem er tagaus tagein Abdichtungsbänder für das Dach des Mercedes 190 schneidet. Geld macht frei, sagt der 27jährige. Er spart mal wieder auf eine Schiffsreise, Traumziel Hollywood. Am liebsten würde er selbst einen Mercedes fahren. „Aber ich habe eine Zelle zuviel obendrin.“
Ob Scheibenwischerhalterungen oder Motorraumtrennwände — Hauptsache Mercedes, finden die 270 geistig und psychisch Behinderten in der Bremer Werkstatt in der Georg-Gries-Straße. Sie würden gern Kittel mit der Aufschrift „Mercedes“ tragen — die versagt ihnen der Konzern jedoch. Dafür lädt er die Behinderten gelegentlich zu Führungen ein, wo sie dann mit Begeisterung „ihre“ Heckleuchte an den fertigen Wagen der S-Klasse suchen.
Schon bald zehn Jahre währt das gute Verhältnis des Autoherstellers zu den Bremer Werkstätten: Zwei Millionen Mark Umsatz, also die Hälfte des Gesamtumsatzes, springen dabei heraus. Doch jetzt schlägt die Rezession durch. „Wir müssen mit einer Einbuße von 600.000 Mark rechnen in diesem Jahr“, sagt Geschäftsführerin Hannelore Stöver.
Nun sucht der Martinshof weitere Kontakte mit der Industrie. „Viele denken, wir könnten nur Holzspielzeug herstellen“, so Hannelore Stöver.
Sie arbeiten an der S-Klasse. Doch der eigene Daimler bleibt ein TraumFoto: Tristan Vankann
Doch zwei Drittel der 1.350 behinderten Beschäftigten arbeiten nicht in der Schaukelpferdfertigung oder in Fahrradläden und Druckerei, sondern in der industriellen Lohnfertigung: Die Industrie liefert halbfertige Waren, die noch montiert, gefräst oder eingepackt werden müssen. Da werden zum Beispiel Grüne Punkte geklebt, Türscharniere geschraubt oder
Regalschienen gefräst. Grundsätzlich wird dafür der marktübliche Stücklohn verlangt, nur bei Arbeitsmangel nimmt man unterbezahlte Aufträge an.
Mit dicken Fingern pfriemelt Ralf Klemmen auf einer Mercedes-Fensterabdichtung. Wieviel er davon schafft am Tag? „Ich schaff das schon, ich schaff das schon“, ruft da der Mann im weißen Nylonarbeitskittel ohne auf
zuschauen. Da viele Hände an einem Produkt mitarbeiten, muß der Lohn für viele reichen: Je nach Fleiß und individueller Einsatzbereitschaft bekommen die Behinderten zwischen 165 und 350 Mark pro Monat.
Betriebswirtschaftlich kann keine der Werkstätten arbeiten: Schließlich soll möglichst jeder hier arbeiten können — auch wenn er nur ein paar Schrauben sortiert. Doch bei einer Frau, die zwar fleißig ist, der man aber mehrmals täglich einen Katheder legen muß, kommen die BetreuerInnen an die Grenzen ihrer Kräfte. Noch nicht entschieden hat die Werkstattleitung auch über eine Behinderte, die sich nur durch permanentes Schreien äußern kann — die anderen Behinderten werden ganz unruhig davon.
Um wirtschaftlich zu arbeiten, müßte der Betrieb Behinderte aussortieren — das gerade will man nicht. So arbeiten seit einigen Jahren geistig Behinderte und psychisch Kranke zusammen. Günther W. zum Beispiel fand im Martinshof eine Arbeitsstelle. Der gelernte Stahlbauschlosser war nach zehn Jahren Springertätigkeit bei Hansa- Waggon durchgedreht, erzählt Gruppenleiter Matthias Kaars. Jetzt arbeitet sich der 43jährige zur höchsten Lohnstufe empor, der S-Stufe. Anforderungen: selbständig arbeiten muß er können, andere anleiten, die Maschine einrichten. Jeweils ein paar Tage vor der monatlichen
Depotspritze bricht jedoch die Verbitterung aus Günther heraus; dann muß er den anderen sagen, daß er mal was Bessereres war.
Die geistig und die psychisch Behinderten haben viel voneinander gelernt, erzählt der Leiter der Werkstatt in Bremen-Ost, Rolf Poppe. Die psychisch Kranken konnten den geistig Behinderten Lebenspraktisches beibringen und lernten umgekehrt, daß man an und bei er Arbeit auch Spaß haben kann.
So sehr sie beschützen, die Bremer Werkstätten sollen keine Einbahnstraße sein, sagt Geschäftsführerin Stöver. Seit über zwei Jahren gibt es, unterstützt vom europäischen Sozialfonds, Gruppen zur beruflichen Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.
Immerhin 16 Schwerbehinderte konnten in unbefristete Arbeitsstellen in Wäschereien, Lager, Supermärkte oder in den Metall- und Holzbereich vermittelt werden. Sie und ihre MitbewerberInnen machten vorher Praktika in den Betrieben und dabei oft eine harte Erfahrung: Statt wie vorher der „King der Halle“ waren sie nun die Langsamsten und die am wenigsten Angesehenen. Ganz zu schweigen davon, daß es dort keine Seidenmalerei oder Gymnastik während der Arbeitszeit gibt, keine Umarmungen und keine Feuerwehrbesichtigungen.
Christine Holch
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