: Mamma Leone auf dem Abstellgleis
Wer Ausländer ist und kein Dach über dem Kopf hat, ist doppelt isoliert ■ Von Franco Foraci und Hakan Songur
Sie liegen oft vor Kaufhäusern und Kirchenpforten auf dem kalten Pflasterboden der Innenstädte, ihre Kleidung ist zerfetzt, die Gesichter erinnern an biblische Gestalten: lange, krause Haare, lange krause Bärte. So zumindest stellt man sie sich vor, die sogenannten Penner. Die Wirklichkeit ist anders. Armut hat heute viele Gesichter. Romantisch verklärbare Obdachlose im Chlochardstil, die fröhlich ihre Bierflasche in der Hand halten, sind eher selten geworden, so sie hierzulande je existiert haben. Nur die tiefe wirtschaftliche Krise in diesem Land, wenn man im Vergleich zu anderen europäischen Ländern überhaupt davon sprechen kann, treibt zunehmend auch Ausländer – von denen man in der Vergangenheit glaubte, sie seien durch ihre familiären Strukturen vor solchen Schicksalen weitgehend gefeit – in die Obdachlosigkeit.
Allein in der Frankfurter Bahnhofsmission sind im Jahr 1992 unter allen Betreuten 34 Prozent Ausländer gewesen. Verglichen mit dem Jahr 1991, ein dramatischer Anstieg von zehn Prozent. Auf dieses neue Phänomen unter den Obdachlosen sind die sozialen Einrichtungen kaum vorbereitet. Mit Ausnahme der Bahnhofsmissionen, deren vordringlichste Aufgabe die unbürokratische Soforthilfe ist, wissen Betreuer und Sozialarbeiter mit ausländischen Obdachlosen wie die aus Sizilien stammende, ein wenig verwirrte „Mamma Leone“ aus dem Frankfurter Bahnhof wenig anzufangen. Ihre spezifischen Nöte, ihre Sprachprobleme, ihre kleinen und großen Sorgen können nicht nach kulturellen Kriterien behandelt werden. Streetworker sprechen in der Regel nur deutsche Obdachlose an, weil der Kontakt mit den ausländischen Obdachlosen oft an der Sprache scheitert. Also werden Mamma Leone, ein marokkanischer Berber nennt sie liebevoll so, und all die anderen links liegengelassen. Mamma Leone ist ohnehin ein kleines Exotikum in der Bahnhofsszene. Glatte, stets gekämmte weiße Haare. Ein bißchen verlotterte, aber saubere Kleidung. Und auf Alkohol steht sie auch nicht, lieber trinkt sie aus der Limonadenflasche. Offenbar eine Frau, die sich ihre Würde auch oder gerade in dieser Situation nicht nehmen läßt.
Zum Beratungsdienst für Männer in Frankfurt – eine Einrichtung, die anders als ihr Name vermuten läßt – nur für Obdachlose gedacht ist, trauen sich sehr wenige ausländische Obdachlose. Auch, weil viele von ihnen mit den deutschen Berbern nicht die besten Erfahrungen gemacht haben. Denn die Solidarität unter den Obdachlosen macht allzu oft vor nationalen Grenzen halt. Einer der wenigen ausländischen „barboni“ (Bärtigen) wie die Italiener die Berber nennen, die den Einstieg in ein geregeltes Leben geschafft haben, ist Giovanni Giana. Sechs Jahre lang war er auf der Straße, mußte für sein Überleben stehlen und betteln. Er schlug sich auch mit kleinen Gelegenheitsarbeiten durch – zuerst in München, dann in Darmstadt, später in Frankfurt. Der dunkelhäutige Giovanni kann nur wenig Deutsch. Das nötigste versteht er, die Sprache selbst zu sprechen, fällt ihm schwer.
Giovanni ist dem Paß nach Italiener. Geboren wurde er in Äthiopien, als Kind eines italienischen Familienvaters, der in Addis Abeba als Architekt gearbeitet hatte. Die Jahre als Obdachloser haben Giovanni gezeichnet: Nicht nur die Seele sei ein bißchen kaputt, sagt er. Er hinkt auch sehr stark. In seinen rechten Oberschenkel bohrten sich vor zwei Jahren achtmal rasierklingenscharfe Klappmesser dreier Jugendlicher aus München. „Dreckiger Penner, warum gehst du nicht in dein Heimatland zurück!“ hatten sie dabei geschrien. Giovanni wurde im Schlaf überrascht.
Vor seiner Zeit als Obdachloser lebte Giovanni ein normales bürgerliches Leben. Er hatte Familie und Freunde, eine Wohnung und einen festen Arbeitsplatz. Nachdem ihn sein Arbeitgeber „aus betriebswirtschaftlichen Gründen“ feuerte, von einem Tag auf den anderen, ließ seine Frau sich von ihm scheiden. Er mußte die gemeinsame Wohnung in Genua verlassen. Seine Mutter lebt noch in Äthiopien. Doch dahin zurück wollte er nicht. Von seinem Leben auf der Straße weiß sie bis heute nichts. „Sie würde es nicht verkraften“, sagt Giovanni. Für die äthiopische Gesellschaft wäre ein solcher Fall eine große Schande.
Giovanni, der italienische Äthiopier, blieb in Europa. Deutschland war seine Hoffnung. Dort, glaubte der gelernte Elektriker, werde er sicher eine Arbeit finden. Doch es dauerte einige Jahre, bis er tatsächlich eine feste Anstellung gefunden hatte. Er lernte den Dominikanerpater Bruno kennen. Seit einem halben Jahr nun betreut Giovanni Obdachlose im Kloster am Frankfurter Liebfrauenberg. Für 800 Mark und ein kleines Zimmer, in das er keine Freunde einladen darf, tauscht er jeden Morgen in der Kapelle die Kerzen aus, spült Tassen und Teller, bewirtet die rund 200 Obdachlosen, die sich morgens um sieben ihr Frühstück abholen. Viele kennt er aus seiner eigenen Zeit als „Penner“.Für sie hat er nicht aufgehört, ein Fremder zu sein, mit dem sie möglichst wenig zu tun haben wollen; für die Gesellschaft, die seine Geschichte nicht kennen will, ist er noch immer beides: obdachlos und Ausländer. Sie urteilt nach seinem Äußeren. Wenn er über seine Erfahrungen in der neuen Aufgabe spricht, bricht ein Stück Wut aus seinen ruhigen Augen. „Die ausländischen Obdachlosen müssen zahlreiche Diskriminierungen erleiden“, erzählt er.
„Die Berber würden am liebsten durchsetzen, daß nur die Deutschen das Essen ausgeteilt bekommen. Sehr häufig kommt es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen deutschen und ausländischen Obdachlosen, weil die Deutschen sie vertreiben wollen. Aber die Klosterbrüder und ich machen ihnen immer klar, daß wir so etwas nicht tolerieren. Daß jeder das Recht hat, an unseren Essensausgaben teilzuhaben. Bibelsprüche helfen uns dabei kaum, manchmal müssen wir selbst Gewalt ausüben. Viele deutsche Obdachlose argumentieren, wir sind hier in Deutschland. Und: deswegen haben bitteschön zuerst die Deutschen bedient zu werden. Aber für uns ist jeder ein Mensch. Wir sind alle gleich.“
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