piwik no script img

Platte

Gespräche im Neu- und Altbau  ■ Von Gabriele Goettle

Herr Sch. erzählt:

„Also hier zu Hause rauche ich grundsätzlich nicht in der Wohnung sondern nur auf dem Balkon, wegen den Gardinen, da guck ich immer mal so runter zu der Truppe, die da herumlungert. Ich hab ja schließlich einen neunzehnjährigen Sohn der sich dort aufhält. Ich frag ihn, Junge, mit was für Leuten treibst Du Dich rum, sind die rechtsorientiert oder was? Er darauf: ,Vater, Du bist echt von gestern, die sind nicht rechts, nicht links. Sie sind meine Kumpels, alles andere ist Nebensache.‘

Na ja, ich muß auf alle Fälle sagen, das, was unten in den Jugendclub reingeht, sind alles sauber gewaschene Jugendliche die ein bißchen Spaß haben wollen. Da kommen natürlich auch Glatzen rein, aber auch Bunte mischen sich unter die normalen Jugendlichen. Sicher, es gibt auch mal Krach, da mischen die Glatzen mal die Bunten auf, aber das war eher früher, heute ham wir ansich Ruhe. Die Punker-Szene ist mehr oder weniger abgewandert ins Zentrum, in das besetzte Haus, das sie dort haben, oder gleich weg in den Westen.

Ne, ne, mein Sohn, der ist ein Normalo, nicht rechts, nicht links sondern geradeaus. Ich hab ihn demokratisch erzogen und nicht irgendwo in eine Ecke gedrückt oder sowas. Seine Mutter hat ihn ein bißchen verwöhnt, gut, aber ansich ist er ein harter Bursche, ein normaler Jugendlicher, der noch Auszubildender ist in einer Maurerlehre. Dem geht's besser als seinem arbeitslosen Vater. Man hört hier vom Balkon klarerweise auch schon mal ein ,Deutschland erwache!‘ oder ein ,Sieg Heil!‘, sowas gibt's, das will ich nicht bestreiten, das ist dann aber ein ganz normaler Junge der eben ein bißchen viel gesoffen hat. Natürlich gab's früher sowas nicht, schon richtig, aber dafür hatten wir hier früher die Motorradszene, die haben sich jetzt umgestellt auf rostige Westschlitten oder unsere alten Trabis und Wartburgs. Damit markieren sie jetzt den absoluten King. Das fängt schon an wenn sie ankommen, da muß dermaßen auf die Bremse getreten werden, daß ringsum alle auf ihre Balkons stürzen. Das stößt bei den Erwachsenen natürlich auf Erbitterung. Und das ewige Bum- Bum aus der Disko, auch wenn's gar nicht so laut ist im ersten Moment, aber es ist immer da, so wie wenn man seinen Herzschlag im Ohr hätte, das macht mich manchmal richtiggehend fertig. Aber störender noch sind die Chaoten die mit dem Auto ankommen und das Radio voll aufgedreht haben. Wie die das aushalten bei diesem Krach in ihren Autos rumzuhängen, das ist mir ein Rätsel. Und alles nur, weil er denkt, damit fallen die Mädels auf die Reihe.

Aber das ist nun mal so, daß ist die Jugend. Und hier bei uns in der Neubausiedlung isses nicht so einfach. Da sind die Hochhäuser, wo Vierraum-, Dreiraum- und Einraumwohnungen sind. Bei uns sind viele Alte, viele alte Frauen. Die sind rein als rüstige Muttis, die sich noch was zugetraut haben, so 1960, 1965. Die sind jetzt fünfundsechzig oder siebzig Jahre alt. Das denen das Gequietsche natürlich an den Nerven zerrt... man muß sich das mal vorstellen, also die kommen an und dann macht es: ,Iiieenn-ienn.‘ Die Muttels springen aus dem Bett, denken, unten ist ein riesengroßer Unfall passiert. Und wenn sie sich grade wieder hingelegt hat, kommt schon der nächste.

Das geht übrigens so – man zieht die Handbremse an, gibt Vollgas, läßt die Kupplung springen... Wir haben ja hier glatten Asphalt, der eignet sich ausgezeichnet. Auf dem groben geht's zwar auch, aber nach zweimal sind die Reifen blank. Und dann natürlich die Randale nachts. Mehrmals wurde schon das Haltestellenzeichen umgeknickt, die Telefonzelle abgefackelt, im Ausländerwohnheim Fenster eingeworfen und Feuer gelegt. Und dann natürlich rundherum in den Büschen... also sagen wir mal so, Freundschaftsszenen hat's bei uns früher auch gegeben wie wir so alt waren. Ist auch passiert. Jedenfalls in Maßen, nur haben wir uns drüben im Clubhaus unter die Treppe gestellt.

Aber wir hatten ja auch noch mehr Abwechslung und die hat uns nichts gekostet, außer den Mitgliedsbeitrag. In der einen Einrichtung hier sitzt heute ein Wessi mit seiner Spielhölle drin, die andere ist ganz geschlossen, weil die Stadt horrende Mieten verlangt. Damals hatte die FDJ-Kreisleitung das Sagen über die Jugendzentren. Die haben zu DDR-Zeiten versucht, dort reges Jugendleben zu machen, und sie haben es auch gebracht, das muß man zugeben. Die haben das gemanagt, wenn ich mich so zurückerinnere, ist man doch immer gern dagewesen und hatte seine Freunde und war zufrieden. Jedenfalls haben sie die, die damals mit dem Blauhemd da das Sagen hatten kaltgestellt, aber es hat keiner die Verantwortung übernommen, der den Jetzigen genehmer ist. Statt dessen haben sie der ,Jungen Gemeinde‘ Geld zugeschoben. Man hat hier für ein paar Millionen Mark mitten ins sanierungsbedürftige Neubaugebiet einen Kirchentempel hineingebaut, weil sowas uns ja dringend gefehlt hat. Aus reinem Naturholz, mit bombastischer Orgel und großer Glocke, damit wecken sie uns sonntags auf. Ob das nun nötig war in dieser Jetztzeit?“ Herr Sch. legt seinen Zigarrenstummel in den Aschenbecher aus gehämmertem Messing, lehnt sich dann auf die Balkonbrüstung, um stirnrunzelnd hinunterzuschauen auf die öden Grünflächen und biertrinkenden Glatzköpfe.

Das von den Punks besetzte Haus liegt nahe am Zentrum an einer stark befahrenen Straße. Schon von weitem hebt sich die schwer verbarrikadierte und mit Graffiti bedeckte Vorderfront von der übrigen rußgeschwärzten Häuserzeile ab. Die meisten der Altbauten hier sind trotz ihres schlechten Zustandes noch bewohnt, Geschäfte und Kneipen hingegen gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Alte Aufschriften und eingeschlagene oder zugenagelte Schaufenster verraten noch, wo ehemals Bäcker, Fleischerei und Milchgeschäft waren.

Die Eisentür des besetzten Hauses ist fest verschlossen. Eine Klingel gibt es nicht und hinter den unteren zugemauerten Fenstern wird uns vermutlich auch keiner hören. Ganz abgesehen davon, daß jedes menschliche Geräusch vom Verkehrslärm unerbittlich überdröhnt wird. Also bleibt uns nichts übrig, als auf die andere Straßenseite zu treten, den Kopf in den Nacken zu legen und hinaufzustarren auf die Fenster der oberen Etage, bis vielleicht jemand sich zeigt, bei dem wir uns dann bemerkbar machen können. Als wir es gerade aufgeben wollen, beugt sich ein nacktes Mädchen mit grünem Schopf aus einem der Fenster. Wir rudern heftig mit den Armen, Elisabeth ruft nach Leibeskräften. Nun hat sie uns gesehen und macht Zeichen, die hoffentlich bedeuten, daß jemand runterkommt.

Und tatsächlich, es vergehen keine fünf Minuten und hinter der Eisentür ertönen Geräusche wie von schweren Hammerschlägen, das Metall bebt ein wenig, dann öffnet sie sich. Das grünhaarige Mädchen mustert uns skeptisch. Ich erkläre, woher wir kommen und was uns interessiert, daraufhin streckt sie uns ihre Hand entgegen und sagt: „Kiwi. Wie der Vogel. Kommt mit rauf, aber paßt auf, hier ist alles dunkel und feucht, wir hatten einen Wasserrohrbruch.“ Sie schließt die Eisentür hinter uns und schlägt die Riegel vor. Dann folgen wir ihr durch das dunkle Treppenhaus, die ächzenden Holztreppen hinaus, vorbei an offenstehenden Wohnungstüren aus denen ein saurer, modriger Geruch weht, der aber noch übertroffen wird durch den Gestank aus den Abtritten auf halber Treppe. „Das Licht ist weg seit wir die Überschwemmung hatten und die Scheißhäuser sind auch übergelaufen. Wir müssen mal sehn, daß wir das wieder hinkriegen“, erklärt sie uns. Weiter oben wird es heller, hier sind die Fenster nicht mehr zugemauert, sondern nur noch mit Kaninchendraht vor eventuellen Steinwürfen geschützt. Oben angekommen, balancieren wir über die am Boden liegende Wohnungstür in einen halbrenovierten Flur und werden in ein kleines helles Zimmer geführt... „Setzt Euch, ich mach mal nen Tee oder was“, sagt Kiwi freundlich und verschwindet.

Die Wände sind tapeziert mit Seiten aus Micky-Maus-Heften. Unter dem dünnen Überzug aus Klarlack wirken die Bildchen wie lasiert. „Bitte die Fürstensuite für uns!“ rufen die Panzerknacker, die gerade Onkel Dagobert beraubt haben. Aus der Ecke unter dem Fenster ertönt ein Pfiff, es raschelt und poltert. Zwischen den Obstkisten, in denen die Bücher stehn, taucht ein braunweißes Meerschwein auf und fixiert uns mit angehobener Vorderpfote, dann macht es kehrt und verschwindet wieder.

Wir setzen uns an den mit Frühstücksgeschirr, vollen Aschenbechern und Gläsern bedeckten Tisch. Kiwi kommt mit dem Tee, der samt Bechern auch noch irgendwie Platz findet. „Das ist M., der wohnt auch hier“, erklärt sie und deutet auf einen schlaksigen Punk, der uns die Hand reicht. Als er sich setzt, öffnen sich die modisch-fusseligen Risse in seinen Jeans wie Wundmale.

G: Wie ist denn das mit den Punks hier, zählt ihr euch zur linken Szene?

Kiwi: Gar nich, nee.

G: Aber ihr habt doch auch ein politisches Selbstverständnis, nehme ich mal an.

M: Also das ist eher so die Lebensart in erster Linie, wir wollen uns nicht schon wieder einen Kopf machen... zu DDR-Zeiten war die Szene größer hier.

Kiwi: Sicher. Da gab's noch Discos wo man hingehn konnte. Jetzt, da kannste ja nirgendwo mehr hingehn, entweder ist geschlossen, zu teuer oder es sitzen die Faschos drin.

M: Früher war das kein Problem abends wegzugehen, da konnte man ganz entspannt rumsitzen, quatschen, spielen, Kaffee trinken.

Kiwi: Aber daß das nicht so

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

bleibt, das war abzusehn.

M: Nee, das stimmt nicht...

Kiwi: Ich mein, mit der Wende war's abzusehen, einiges wenigstens.

M: Das mit den Faschos nicht!

Kiwi: Da waren weniger da, vorher, und getraut haben die sich sowieso nichts, daran wär gar nicht zu denken gewesen, an das mit den Ausländern und so.

M: Also die Glatzenszene ist jetzt wahnsinnig viel größer als früher. Am Anfangs war's ja noch so ne Jugendboombewegung, wo faktisch jeder Jugendliche mal Skinhead gewesen sein muß, sonst isser Außenseiter. Aber heute geht das schon etwas tiefer bei vielen, da gibt's richtige Organisationsstrukturen. Es ist nicht mehr so einfach: ,Früher hab ich halt mein Moped gehabt und heute muß ich ne Glatze haben.‘

Kiwi: Ich seh das nich ganz so. Guck mal, die älteren, die ham jetzt plötzlich geheiratet und mächtig Kinder gekriegt. Die waren vor nem Jahr noch die Knallharten. Also als richtig rechts kann man die eigentlich nicht bezeichnen. Das sind für mich immer Leute gewesen, die irgendwie geil darauf sind, Randale zu machen, was zu zerstören, den Größten zu markieren.

M: Aber sie haben schon diese Anti-Ausländer-Haltung, die sie ja auch in die Tat umsetzen.

Kiwi: Gegen irgendwas muß man ja sein!

M: Nee, das ist keine Modewelle mehr, das ist schon wie eine Partei.

Kiwi: Wo sie eben hingeschubst wird, die Modewelle, da rennen die Leute hinterher. Das ist doch alles von außen gekommen, von den Medien und so, daß man die richtig ernst genommen hat, solang bis die es selber geglaubt haben und dann war's zu spät.

G: Könnte man sagen, daß die Eltern der Skins eher nicht zur ehemaligen Funktionärsschicht gehörten?

M: Das ist gemischt. Alles durcheinander, das hängt von der Clique ab, also davon, wo sie wohnen.

Kiwi: In den Neubaugebieten hängen sie alle aufeinander, das ist klar. Da sind die Probleme eben größer als in so nem Einfamilienhaus, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Aber trotzdem gibt's da genauso auch Faschos. Dort wie überall. Ich war ja regelrecht schockiert... also früher im IOS – so heißt diese Oberschule – da waren nirgendwo Skins dabei oder welche, die rechte Anschauungen gehabt hätten. Und dann hat das plötzlich so um sich gegriffen, auch mit den Parolen überall, ich habe meine Schule nicht wiedererkannt.

M: Bei uns war's schon früher rechts an der Penne, das war sogar bekannt, da wurde nicht mal viel gemacht, solang nichts weiter war.

Kiwi: Ich bin jedenfalls froh, daß ich mit der Schule fertig bin. Jetzt mach ich grade einen Orientierungskurs, mal sehen...

G: Seid ihr hier alle fertig mit der Schule?

M: Alle. Wir sind alle so um Zwanzig, Einundzwanzig. Schüler halten sich hier nicht lang.

Kiwi: Andre auch nicht. Es waren mal welche aus Berlin, kurz nach der Besetzung, so aus Kreuzberg, so Exil-Kreuzberger, die kamen hier gar nicht zurecht. Einige waren gleich wieder weg, andere haben noch ein bißchen ausgehalten, wahrscheinlich hatten sie was ausgefressen. Die haben unheimlich Streß gemacht, mit Anagitieren und so, laufend Diskussionen.

M: Das war nervig. Wir sind so zwischen dreißig bis fünfzig Leute manchmal gewesen, jeder hatte nicht nur sein eigenes Bett, sondern auch sein eigenes Zimmer. Größere Zimmer als dieses hier sind auch dabei.“

Während M. uns Tee nachschenkt, ertönt wieder das Pfeifen des Meerschweines. Diesmal taucht es zu seinen Füßen auf und es ist nicht alleine gekommen. Eine schlanke Ratte mit glänzendem kastanienbraunem Fell erklimmt behende M's Hosenbein. Sie sitzt nach wenigen Sekunden bereits auf seiner Schulter und betastet das Ohrläppchen. M. schenkt weiter Tee ein, die Ratte balanciert die schwankenden Bewegungen aus und verschwindet dann mit einem Husch im offenen Hemdkragen.

M: Wir haben hier eine Menge Probleme gehabt mit den Glatzen. Mit den Faschos und den Langhaarigen, also den Metallern – so heißen die bei uns, nennen sich nach der russischen Band Metallica und die sind auch ganz schön rechts – mit denen haben wir ständig Streß gehabt, momentan isses besser.

Elis: Langhaarige Rechte? Sowas gibt's im Westen nicht.

Kiwi: Lange Haare und Lederklamotten. Aber die Glatzen sind schlimmer. Nur, irgendwann hörn sie ja auf, Glatzen zu sein, dann kriegen sie Kinder und ziehn...

M: Sich zurück.

Elis: Schon in frühen Jahren?

M: Ja, ja, so mit Anfang Zwanzig.

Kiwi: Na guck mal, die Glatzen hatten auch mal so ein Haus besetzt, zeitweise. Das haben die Bullen geräumt, weil die Leute auf der Straße mit Ziegelsteinen beworfen worden sind. Es kam dann raus, daß sie dort Waffen gelagert hatten und alles. Dieselben Leute sind heute teilweise ganz normal und sitzen mit Frau und Kind brav in ihrer Datsche am Wochenende.

M: Das schon, aber dann gehn sie auch und machen Wehrsport mit der alten Clique... Jedenfalls isses momentan relativ ruhig. Wir hier hatten mit den Bullen ja nie Streß, im Gegenteil, das war ganz gut immer, daß die so in der Nähe sind. Wenn Überfälle waren, is einer von uns schnell rumgelaufen und hat Bescheid gesagt, sie sind dann auch meistens gekommen, wenn's auch zwanzig Minuten gedauert hat. Man kann's ja verstehen. Es standen manchmal 200-300 Mann vor der Tür. Das war zur Zeit der Fußball-WM, da waren sie total aufgeputscht.

Kiwi: Das war teilweise schon richtig gefährlich. Aber wir sind da geblieben. Wohin hätten wir denn gehn sollen, nach Hause? Mein Vater hat alles über sich ergehen lassen, die politische Lage, dann die Arbeitslosigkeit, aber daß ich so eine Entwicklung mache, das hat ihn umgeworfen. So behauptet er. Für ihn sind das alles Verbrecher, die Leute mit denen ich hier herumhänge.

M: Meine Eltern sehn es genauso. Die haben total den Anschluß verloren, sitzen nur noch zu Hause rum und gehn kaum noch raus.

Kiwi: Ich bin damals mit Siebzehn ausgezogen, er erst nach seinem achtzehnten Geburtstag...

M: Ich war ja schon vorher kaum noch zu Hause...

Kiwi: Mein Vater hat gesagt: ,Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht mehr wiederkommen, überleg's dir also gut.‘ Ich hab's gut überlegt und bin gegangen. Ich bin auf Demos mitgegangen, die waren so groß, daß ich gar nicht verstanden habe, was die Leute vorn sagen. Trotzdem fingen alle an zu jubeln. Ich hab mich immer nur gewundert, warum jubeln die, die sehn doch gar nichts und verstehn genauso wenig wie ich, na also, das war eben die Stimmung, die hat jeden mitgerissen.

Die Ratte erklimmt unvermutet den Tisch, tritt sacht zwischen Tellern und Tassen hindurch, richtet sich auf und schnuppert mit bebenden Barthaaren in meine Richtung. Wenig später sitzt sie bereits auf meinem Knie und nun beginnt eine detaillierte Untersuchung. Sie verschwindet in meinem Ärmel und kommt am Hals wieder raus. Es kitzelt kaum, so vorsichtig setzt sie die Füße auf. Die Recherche kennt kein Tabu.

Kiwi: Ne Weile waren wir so was wie die Lieblingskinder der Kirche, die wollten sich um uns kümmern...

M: Ja, sie sagten: ,Wir haben ein Projekt vor, da sollen alle teilnehmen, vom Anarchisten bis zum Hooligan‘, es sollte sogar ne Art Disco aufgemacht werden später, eine Woche Konzerte für Punks, eine Woche für Skins. Ich mein, das konnte ja nichts werden, da gibt's immer Streß bei sowas.

Kiwi: Dabei, das ist ja heute fast vergessen, war man ja teilweise mit denselben Leuten früher in der Krippe...

M: Das müßt Ihr nämlich wissen, bei uns in der DDR sind ja alle in den Kindereinrichtungen aufgewachsen.

Kiwi: 95 Prozent.

G: Würdet Ihr lieber in der Familie aufgewachsen sein?

M: Nee, ich glaube so war's schon gut.

Kiwi: Bedeutend besser! Man lernt viel mehr und viel besser Menschen einschätzen. Du mußt ja gleich von Anfang an mit einer größeren Gruppe andere Menschen auskommen. Du lernst, wie Du dich wehren mußt und Du lernst Kompromisse zu machen.

G: Die Skins haben's anscheinend nicht gelernt.

Kiwi: Doch doch, das funktioniert ja bestens in der Gruppe, nur nach außen schlagen sie dann das Feindbild...

G: Dann ist es vielleicht so, daß die persönliche Schwäche grade darin besteht, daß man sich nur über die starke Gruppe identifizieren kann, gewohnheitsmäßig?

M: Na ja, wir haben hier alle dieses Problem und die Angst, plötzlich alleine dazustehen.

Kiwi: Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht, das ist für uns so selbstverständlich gewesen. Wenn die Eltern rollende Schicht machen mit Nachtschicht und so, dann sind die Kinder eben die ganze Woche im Kindergarten.

Elis: Auch über Nacht?

Kiwi: Seltener, nur wenn die Eltern auf Montage sind oder sowas. Ich z.B. bin früh mit meinem Vater aufgestanden, immer so um Fünfe. Das war ein bißchen stressig...

M: Ich mit meiner Mutter um Sechse...

Kiwi: Dann in die Krippe, später in den Kindergarten und dann am Nachmittag, so um Dreie oder Viere wird abgeholt. Da hatte man oftmals nicht mal Lust mitzugehen, weil man ein Spiel noch nicht fertig hatte.

M: Manche sind auch schon alleine nach Hause gegangen.

Die Ratte hat ihre Expedition auf mir beendet und ist zu Elisabeth übergesprungen.

G: Und wie war das, hattet Ihr über mehrere Jahre dieselbe ,Tante‘ oder wie auch immer...

Kiwi: Da waren zwei, drei Erzieherinnen im Kindergarten, wenn Du da reinkommst in die erste Gruppe. Das ist wie in der Schule, die Klassenzüge. Erste Gruppe, zweite Gruppe, dritte Gruppe...

M: Bei uns war's Kleine Gruppe, Mittelgruppe, Große Gruppe.

Kiwi: Da war man dann ganz stolz, wenn man in die nächst höhere Gruppe aufrückte. Die Erzieherin hat man meistens behalten.

M: Sie macht halt immer die drei Gruppen durch und fängt dann wieder von vorne an, bis sie alt ist.

Elis: Und die Eltern, sind die eher Randfiguren im Kinderleben?

M: Eigentlich wieder nicht. Man ist ja das ganze Wochenende mit denen zusammen, man ißt ihr Essen, geht mit ihnen schwimmen...

Kiwi: Sonst haben wir ja mit der Gruppe gegessen. Da gab's ne Großküche, von der wurden die Kübel gebracht, so Isolierkübel.

M: Manche hatten auch ne eigene Küche, das waren die Einrichtungen, wo Kindergarten und Krippe in einem Komplex sind. Manche Kinder, die kriegen ja auch spezielle Diäten und sowas...

G: Und ideologisch?

Kiwi: Ach, es ging. Da haste halt gelernt, daß wir hier ein Arbeiter- und Bauernstaat sind und wie gut das ist für alle. Jeder hat seine Arbeit und sein Brot...

M: Unser Kindergarten hieß ,Lilo Hermann‘ und so haben wir gelernt, wer Lilo Hermann war.

G: Wer war denn Lilo Hermann?

M: Na die Lilo Hermann war 1935 verhaftet worden, weil sie Informationen über die Aufrüstung in den Süddeutschen Flugzeugwerken für die KPD in die Schweiz weitergeleitet hatte, damit die Öffentlichkeit davon erfährt. Jedenfalls hat die Gestapo ihr neugeborenes Kind beim Verhör in den Nebenraum gebracht und da hat man sie dann zu Aussagen zwingen wollen, mit der Drohung, dem Kind was zu Leide zu tun. Aber sie hat nichts ausgesagt, achtzehn Monate lang. Dann ist sie in Plötzensee hingerichtet worden. Sie war die erste zum Tode verurteilte Frau damals. Also wenn wir Lilo Hermann hörten, dann hatten wir schon die Schnauze voll.

Kiwi: Ansich isse ja eine Rabenmutter gewesen, na egal, jedenfalls gab's auch Kindergärten die hießen ,Hänsel und Gretel‘, ,Struppi‘ oder ,Sandmännchen‘, so wie meiner. Zur Abschlußfeier haben sie uns Zuckertüten angehängt, so kleine, wir mußten Fragen beantworten wie z.B.: ,Wie heißt unser erster Vorsitzender?‘ Und waren stolz auf unsere richtigen Antworten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen