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Losgelassene unter uns

■ Suchtfall Karaoke: Die bekennenden Selbstsinger erobern die bremische Disco-Szene / Eine Reportage aus der Tiefe der Nacht

Karaoke 1: Cindy und Bert im Kreislauf der Wiedergeburt

„Die Bremer singen nicht.“ Jede Wette. So kann man sich irren, Andreas. Das kommt davon, wenn man nur Kopfschütteln und Sprüche für die „Karaoke“ übrig hat. Als sein Chef das erste „Laser-Karaoke-Video-Sing- Along-System“ im „Bottleneck“ installieren ließ, winkte Andreas als erfahrener Kneipenkellner ab. Das war vor anderthalb Jahren, und seither singen die Bremer den Wirtsleuten die Ohren voll, allnächtlich.

Zur Strafe für seine verlorene Wette ist Andreas heute Karaoke-Moderator, muß sich Sinatra-Imitatoren im Dutzend anhören, fügt sich seinem Schicksal und singt: „That's life, and I can't

hierhin bitte

das Foto vom

singenden Paar,

wo der Mann links ist

deny it...“ Und so moderiert er nun die allnächtliche Schlagerparade der Unerschrockenen. Mit liebevollem Spott, aber im Ganzen doch recht nachsichtig und aufmunternd kündigt er all die Steffis, Marens und neuerdings Pamelas an, die sich ums Mikrofon reißen: „Bitte einen netten Applaus für Steffi! - Steffi, singst Du heute abend das erste Mal...?“

Aber ja. na, was soll's. Andreas holt die Laser-Disk heraus und legt Steffis Lieblings-Playback in die Anlage, und so klingt's dann schmachtend aus den Boxen: „I am a woman in love...“ - Andreas lächelt freundlich und sagt beiseit': „Jeden Abend gibt's irgend

'ne Verliebte, die das singen will.“ Und auch muß! Wie anders könnte Andreas „diese Sucht“ erklären, der er schließlich selbst erliegt? Dieses unstillbare Verlangen, das z.B. Studenten der Versorgungstechnik nächtens in Bars wie das „Little Ritz“ treibt, um dort ihre tief verborgene Leidenschaft herauszubrummen, in Form von alten Queen-Hits und wahlweise Hank-Williams- Schnulzen?

„Streß abbauen, Komplexe loswerden“, sagt Andreas über die Motivation der Karaoke-SängerInnen. Was sich im Alltag eben so anstaue an Ärger, das könnten die Selfmade- Stars sich frisch von der Leber wegsingen, um schließlich als bessere Menschen das Nachtleben zu verlassen. So ist die Karaoke der Ort, um öffentlich Liebeskummer loszuwerden, seiner Sehnsucht Luft zu machen oder Liebesschwüre zu erneuern, am besten im Duett. Und wo anders ließen sich freimütig Bekenntnise ablegen wie „Oh, ich hab' solche Sehnsucht, ich verliere den Verstand“, wie es „Robin und seine Freunde“ im Quartett (!) intonieren.

Manch Losgelassener, berichtet Andreas, habe sich zum Rock'n'Roll-Playback schon mal aufs Parkett gelegt, um dort ungestört zu toben. Dieser Befreiungs-Theorie entsprechen auch die Sagen aus dem fernen Osten, die in der Bremer Karaoke- Szene kolportiert werden. Die Karaoke nämlich kam aus Japan über uns. Dort hat sich das Ganze nicht bloß zu einer Art Volkssport entwickelt; auch wird berichtet, daß Firmenangehörige immer dann, wenn's mal richtig kracht, eine kleine Gesangs-Stunde abhielten, um dann aller unguten Gefühle entsorgt wieder ans Werk zu gehen.

Ja sogar von Karaoke-Kabinen wird erzählt: In diesen könnte sich ein jeder per Münzeinwurf seinen Kummer von der Brust singen. Ob dann auch der Applaus von der Laser-Disc kommt?

Soweit sind die Bremer zwar noch nicht. Aber die Begeisterung scheint dennoch grenzenlos. Und wenn da jemand zum zehnten Male am Abend „My Way“ deklamiert - es wird geklatscht, gepfiffen und gejubelt. Acht Stunden lang, so lang die gute Laune langt und Andreas doch noch mal die Sinatra- Platten herausrückt. Da können die Hits noch so nachgespielt sein, der Sound noch so Plastik und das begleitende Video noch so Eduscho-Werbespot: Andreas kriegt fast jeden Gast mal ans Mikrofon - „nach den ersten drei, vier Leuten fällt die Hemmschwelle.“

Und nach den letzten Bieren erst. „Das erste Mal hab' ich mich grauenhaft betrunken, bevor ich mich vor die Leute gestellt und gesungen hab“, bekennt Andreas. Aber auch das gehört zum Standard-Repertoire der Karaoke-Szene.

Die Japaner freut die Begeisterung der Bremer für den fernöstlichen Sanghessport allerdings nicht nur aus multikultureller Verbundenheit. Hauptnutznießer der Sache ist nämlich die Fa. Pioneer. Und die läßt die Wirte erst mal für den Spaß der Gäste zahlen: Musikanlage plus

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