: Der andere Blick auf die Stadt
■ Mit "Ganz Berlin West" liegt nun der zweite Berlin-Führer des Stattbuch-Verlags vor / Neues auch für eingefleischte Berliner und schwere Zeiten für Berlinmuffel
Angenommen, es gelte den Gebrauchswert eines Berlin-Führers zu ermessen, so wäre ein Kriterium zuallererst der Neuigkeitswert auch für eingefleischte Berliner und all jene, die es gerne wären. Des weiteren bliebe zu prüfen, ob und wie sich die jeweils andere Stadthälfte dem jeweils anderen Stadthälftling erschließt: als Summierung bekannter und langweiliger Klischees oder als Ergebnis genauer Beobachtung, die neugierig macht aufs Neue und Unbekannte.
Mit dem gerade erschienenen Berlin-Führer „Ganz Berlin West“ ist dem Stattbuch-Verlag jedenfalls beides und damit ein Volltreffer gelungen. Zusammen mit dem bereits 1991 und nunmehr in der dritten Auflage erschienenen „Ganz Berlin Ost“ liegt damit erstmals ein Reiseführer vor, der im Gegensatz zum „Einheits“-Anspruch der jüngsten Berlinalia- Schwemme den Eigenheiten der ungeteilt-geteilten Stadt zumindest annähernd gerecht wird und darüber hinaus einlädt, die Spaziergänge nicht nur auf dem Stadtplan, sondern auf den Straßen, Höfen und Plätzen anzutreten.
Zum Beispiel ins Böhmische Dorf: Wer von der Neuköllner Karl-Marx-Straße den Weg über die Uthmannstraße, die übrigens als Kulisse für die Verfilmung der Blechtrommel diente, in Richtung Richardstraße nimmt, trifft alsbald auf ein Dorfensemble, das so gar nicht dem Mietskasernen-Einerlei der Gründerzeit entspricht. Daß das Böhmische Dorf auf die Ansiedlung böhmischer Glaubensflüchtlinge durch den Großen Kurfürsten zurückgeht, dürfte vielleicht bekannt sein. Daß auf der Rasenfläche an der Richardstraße 35 (neben Meyers Hof im Wedding) Berlins größte Mietskaserne stand, dagegen kaum. Die Richardsburg erlangte 1931 darüber hinaus traurige Berühmtheit, als die im Vorderhaus gelegene Kneipe zum SA-Sturmlokal wurde. Nachdem ein Mietstreik der Bewohner gegen die unliebsamen Gäste beim Besitzer auf taube Ohren stieß, wurde selbiger kurzerhand erschossen. Von 22 Angeklagten wurden zwölf zu Gefängnisstrafen verurteilt, was fünf von ihnen freilich nicht davor schützte, bei der Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Nazis 1933 zum Tode verurteilt zu werden.
Und wer weiß schon, daß die Pfuelstraße im hintersten 10999 benannt ist nach einem General, der hier in der 1817 erbauten Militärbadeanstalt „naturgemäßen Schwimmunterricht“ erteilte. Schwimmen mag in der Brühe heute keiner mehr, und auch die Angler, die vor der Wende das Gröbenufer bevölkerten, sind bis auf wenige Unbeirrbare verschwunden. Denn die Vereinigung bereitete der Regelung, an dieser Stelle ohne Angelschein angeln zu können, ein Ende. Der Grund: Sowohl Wasser als auch Fische waren damals „Eigentum“ der DDR.
Neben den Touren an die bekannteren Orte der Stadt führt der von Klaus Esche und Axel Besteher-Hegenbart herausgegebene Band auf die Spuren der Moabiter Industriearchitektur ebenso wie die Geschichte der Sanierung der Spandauer Altstadt, zur Schöneberger Insel wie dem Turmbau zu Tempelhof. Selbst ein so langweilig und öde anmutender Bezirk wie Reinickendorf mag in anderem Licht erscheinen, wenn man das Märkische Viertel rechts liegen läßt und sich über den Tegeler Fließ auf den Weg nach Rosenthal macht, um über den Umweg über „Ganz Berlin Ost“ und die Pankower Wollankstraße wieder in den Wedding zurückzukehren.
Selbst Berlin-Muffeln wird es künftig schwer fallen, sich dieser Stadt zu entziehen. Insofern sind die beiden Bände von „Ganz Berlin“ tatsächlich ein Stück Vereinigungsliteratur, in dem Sinne jedenfalls, daß sich der Halbstädter nun nicht mehr länger auf selbige zurückziehen kann und darauf, nicht gewußt zu haben, daß es auch drüben ganz anders sein kann. „Ganz Berlin West“ wird, wie schon sein Ostberliner Gegenstück, seinen festen Platz auf der Toilette des Rezensenten finden. Uwe Rada
Ganz Berlin West. Stattbuch-Verlag, 436 Seiten, 34 Mark
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