: Kann kommen
■ Claus Räfle collagiert erotische Aspekte von Europa 1992
„Europa wird eins!“, jubelt es im Vereinigungstaumel, ohne das Sinnliche des Akts zu berücksichtigen: die Erotik. Dieser EG-Facette nimmt sich der Berliner Grimme- Preisträger Claus Räfle in seinem neuen Film „Grenzenlos eurotisch“ an. Er stellt Bilder eines Londoner Mädchenpensionats zwischen barbusige Models, zeigt zärtlich eine römische Fotoliebesgeschichte im Rhythmus des Blitzlichts und lobt die Pariser Luxusprostitution als „völkerverbindendes Element“. In Moskau erleben wir Striptease-Ausbildung als Ausreisechance, und in Zürich tönt der Alphornmusiker: „Mal blase ich fröhlicher, mal trauriger.“
In seiner viel gerühmten Montagetechnik läßt Räfle immer wieder Bilder aus der Kunst des Kochens einfließen, was im Kontext der Erotik nicht eben neu ist, aber selten so charmant und tiefsinnig vorgeführt wurde. „Sie müssen sicher gehen, daß die Hitze auch tief eindringt; denn nur dann gart es und bleibt heiß dabei.“ Na bitte, so spricht ein englischer Koch.
Die eher zufällig scheinende Auswahl seiner ProtagonistInnen macht „Grenzenlos eurotisch“ zu einer rundum spritzigen Angelegenheit. Wenn beispielsweise die Zürcher Telefonberaterin Tamara Masturbationshilfe im Gebührentakt leistet, während sie mit ihrem Gatten das Samstagabend-Fernsehprogramm verfolgt.
„Grenzenlos eurotisch“ ist nie banal oder schlüpfrig. Wenn es um Menschen geht, zeigt Räfle sie so, wie sie sich darstellen möchten, und beweist damit, daß die zweifellos phantasiereiche Erotik-Wirtschaft grenzenlos neurotisch ist. Das Kaleidoskop der Bilder schafft ausreichend Freiräume für Assoziationen. Das Hetzen von Höhepunkt zu Höhepunkt wäre schnell ermüdend, doch so kommt der Film wie eine 60minütige Liebelei ohne Hänger daher. Räfles Text klingt romanhaft, und Lothar Blumhagen, die deutsche Synchronstimme von Roger Moore, gibt ihn mit Eleganz und leicht snobistischer Ironie zum Besten.
Im Studio wurde der Film zusätzlich einkoloriert. Das macht den englischen Rasen noch grüner, den Roten Platz noch roter und die sich hinter Bonbonidylle verschanzende Branche der absurden Blüten noch durchsichtiger.
60 schweißtreibende Studionächte lang haben Räfle und Kameramann Stokowski den von arte und dem Süddeutschen Rundfunk (SDR) koproduzierten Film geschnitten und sich dabei um so manches delikate Abenteuer gebracht. Aber das Resulat mag sie für ihre Entbehrungen entschädigen.
Räfles optimistisches Fazit: „Eine für alle befriedigende Vereinigung sollte nicht länger zurückgehalten werden. Europa kann kommen.“ Langsam, aber gewaltig. Achim Becker
arte: heute, 23.55 Uhr
ARD: 14. Oktober, 23 Uhr
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