: Somnamboulevard – Unentschlossene Zweifel VonMicky Remann
Eine ganz andere Entwicklung als die Direktorin des Geldsanatoriums durchlief ihr Bruder Hans. Sein ausgeprägter Hang zur Zweifelei steigerte sich zum bedeutendsten, wenn nicht gar einzigen Charakterzug, was dazu führte, daß die meisten seiner Unternehmungen halbherzig begonnen, unengagiert vollführt und in der Regel vorzeitig abgebrochen wurden.
Beispielsweise zweifelte Hans, als andere den Ödipuskomplex durchlebten, intensiv an seiner Mutter und sehnte sich statt dessen nach Intimität mit der Oma. Sicher war er sich dieser Sache aber nicht, sehr zum Leidwesen eines Psychologiestudenten, der sich davon ein fettes Diplomthema: „Ein Ödipuskomplex mit generativer Retrospektive“ versprochen hatte. Doch nein, auch das blieb unausgegoren.
Ähnlich erging es Hans beim Eintritt ins Berufsleben. Schon vor Ende der Probezeit beendete er das Voluntariat beim Deutschen Geiselgeberverband, weil er dort Sachen verwechselte, die er nicht hätte verwechseln sollen, dafür anderes miteinander vermengte, was absolut nichts miteinander zu tun hatte, während er brav an beidem zweifelte. Konkrete Beispiele sollen keine Erwähnung finden, nur soviel: Hans sollte eines Tages... , aber lassen wir das, warum sollen wir mit einer Geschichte anfangen, die Hans im Zweifelsfalle doch wieder abbricht? Und genau so war's.
Nach diesem Intermezzo ging Hans in sich, versuchte es jedenfalls, aber auch das gelang ihm nur teilweise, weshalb er sich bald in einem Zustand wiederfand, wo er halb in und halb außer sich gekehrt war. Das war zwar psychosomatisch prekär, verstärkte aber seine Zweifel und bestätigte ihn in dem felsenfesten Glauben, diese Zweifel völlig zu Recht zu haben.
Tatsächlich war bald das einzige, wovon er zweifelsfrei überzeugt war, die Tatsache des Zweifels als ewigem Grund allen Seins, einschließlich seines Seins. Oder etwa doch nicht beziehungsweise nicht ganz? Und dann gingen die Zweifel wieder von vorne los. So sehr er sich bei dem ewigen Hickhack auch einen Rat von anderen erwünschte, war er doch Narziß genug, ihn rechtzeitig zu verwerfen, wenn er spitzkriegte, daß dieser Rat ihm seine Ontologie der Zwiespältigkeit hätte desavouieren können.
Als Monument der Unvollständigkeit entschloß er sich daraufhin, seinen schwankenden Gefühlen in Form eines Leserbriefs an die taz einen stabilen Ausdruck zu verleihen. Er schaffte es aber nicht, den Brief zu Ende zu schreiben, weil er bezweifelte, daß er abgedruckt würde.
Das Original, von dessen Authentizität Hans inzwischen aber auch nicht mehr überzeugt ist, lautete: „Mein Thema ist die Unentschlossenheit, und deswegen werde ich mich nie entschließen, sie zu beenden, denn das hieße ja, Schluß zu machen mit der Unentschlossenheit, was aber nur geht, wenn ich den Entschluß fassen würde, mit meiner Unentschlossenheit Schluß zu machen. Dies setzte aber einen Entschluß zum Entschluß voraus, den ich aufgrund meiner Unentschlossenheit nicht zu fassen vermag. Es sei denn, es wäre Schluß damit.“
Doch dann packten ihn erneute Zweifel, und er radierte „Schluß damit“ wieder aus. Es geht also weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen