: Ein Nachmittag in der Lindenstraße Von Kirsten Niemann
„Sie haben noch nie vor einer laufenden Kamera gesessen?“ fragt der Chauffeur vom WDR, während er mich vom Flughafen zum Lindenstraßen-Produktionsgelände in Köln-Bocklemünd transportiert. Ich wünsche mir in diesem Moment, ich würde es auch in Zukunft nie tun. Es muß ein Anflug von Wahn oder die Höhe des mir angebotenen Schmerzensgeldes gewesen sein, das mich dazu bewogen hat, die Einladung des WDR zur Lindenstraßen-Jubiläums-Talkrunde – acht Jahre Lindenstraße mit 400 Folgen! – anzunehmen. Die Angst eines Kaninchens vor der Schlange kann nicht größer sein als meine eigene vor der Kamera.
Ankunft Bocklemünd. Ein vertrautes Gesicht kommt mir entgegen, ich freue mich: Anna Ziegler empfängt mich und übergibt mich der Maskenbildnerin. Tanja Schildknecht und Gabi Zenker – zwei weitere zentrale Dauerserienfiguren – sind auch schon da. Wir werden gründlich eingepudert, bis wir ganz matt aussehen. Schließlich soll der Kameramann von den Lichtreflexen auf den Gesichtern nicht geblendet werden. Anna raucht Kette und ist offenbar genauso aufgeregt wie ich: „Hat schon jemand Hans gesehen?“ Unweigerlich freue ich mich auf Hansemann Beimer, bis völlig überraschend Regisseur Hans Geißendörfer den Raum betritt.
Draußen vor dem Café Beyer sollen wir uns bei einem gepflegten Glas Wasser unterhalten. Wenn das Fernsehen Gerüche übertragen könnte, würden die Zuschauer wegen des Gestanks vom Angstschweiß sofort abschalten. Kurz vor Aufnahmestart kommt der Moderator zum Kollegen von der FAZ und zu mir und bittet uns inständig, Kritik an der „Lindenstraße“ zu üben. Schließlich seien wir ihm als „liebevoll, aber kritisch“ angekündigt worden. Der FAZler und ich schauen uns verblüfft an. Kritik? Aber wieso denn? Darauf bin ich nicht vorbereitet, also bleibe ich eher einsilbig. Gott sei Dank sind erst die Schauspielerinnen dran. Anna, Tanja und Gabi erzählen von ihren Erfahrungen mit ihren Doppelexistenzen. Anna freute sich über die vielen Carepakete, die sie von den Zuschauern bekommen hat, damit die (Serien-)Kinder nicht verhungern, nachdem Hansemann seine Stelle verlor. Einmal hat ein Passant sie angespuckt, weil sie Schuld am Scheitern der Beimerschen Fernseh- Ehe habe. Tanja kommt manchmal mit ihren zwei Haushalten durcheinander: Liegt die Seife nun rechts oder links von der Dusche? Auch die Zuschauer haben Probleme, Serie und Realität zu trennen: Dem Elend der Familie Zenker müßte doch endlich ein Ende gemacht werden, wünscht sich ein Gast. Vielleicht könnte man Gabi Zenker im Lotto gewinnen lassen? „Das ist aber lieb von Ihnen“, freut sich Gabi Zenker – ob in ihrer Rolle als Gabi oder privat als Andrea Spatzek bleibt dabei unklar.
Am Schluß, der gleichzeitig der Höhepunkt der Sendung ist, stellt der Moderator einige tückische Fragen aus dem neusten Gimmick, dem Lindenstraßen-Quizbuch: „Was findet die Polizei bei einer Durchsuchung des Restaurants Akropolis in den Eiernudel-Kartons?“ Das weiß ich, aber ich halte meinen Mund. „Videorecorder!“ So schallt es von meiner Linken und aus dem Publikum. Falsch. Es sind Eiernudeln!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen