: Die Aufblähung von Jugend
■ Berliner Radiotage: Fröhlichkeitsneurotische Moderatoren lassen wenig Platz für den Klang der Welt
„Ja und dann bin ich Hippie geworden. Ausschlaggebend war eine Sendung im Radio: Da ging es um den Sommer der Liebe in San Francisco und um Drogen und wie die Leute damals drauf waren. Das hat mich so fasziniert, daß ich mir dann Bücher gekauft hab', die gelesen habe und dann selbst mal Hasch ausprobiert hab'. Inzwischen kiffe ich nur noch selten. Radio höre ich auch nicht mehr.“ Ritchie, ein Kleinstadtfreak aus Bad Segeberg, ist in einer Zeit sozialisiert worden, als das Radio noch renitente Identifikationsmuster liefern konnte. Diese Zeiten sind inzwischen vorbei. Nicht nur im ländlichen Sendebereich des NDR, sondern auch in den Großstädten.
Kleinstaaterei
In Berlin etwa haben sich zwar die Radiosender in den letzten Jahren ähnlich vermehrt wie die Sex- Magazine – inzwischen suchen 27 Programme verzweifelt nach Hörern – doch die Chancen, auf Überraschendes oder auch nur halbwegs Eigenwilliges zu stoßen, sind kleiner geworden.
Mit der Einteilung in Zielgruppen und Sparten hat eine deprimierende Normierung eingesetzt. Früher mußten sich beispielsweise „minoritäre“ Sendestrecken wie die legendäre Jugendsendung „sf- beat“ auf der Welle SFB 2 (jetzt kommerziell tönend B 2 genannt) gegen den Mainstream des Senders durchsetzen und konnten so ein realistisches minoritäres Bewußtsein entfalten.
Inzwischen zeitigt die Aufblähung von „Jugend“ zum Vollprogramm alle Konsequenzen der Kleinstaaterei: Der neue Mainstream „in deinem Sender“ verdrängt weit rigoroser als ein Vollprogramm es könnte all das, was sich auch nur irgendwie ästhetisch (= politisch) oppositionell gibt. Sendungen, die ausführlich über vergangene und gegenwärtige Jugendrevolten zwischen Pop, Politik, Drogen und Sex berichten, findet man heute eher in den ghettoisierten Kulturkanälen (DS Kultur, SFB 3, NDR 4 etc.) als in den sogenannten Jugendsendern, die immer aggressiver und besinnungsloser irgendwelchen Quoten hinterhermarschieren. „Minderheit“ gilt auch den öffentlich-rechtlichen Radiomachern inzwischen generell als Schimpfwort. Journalistische Beiträge durchbrechen nur noch äußerst selten die 2-Minuten- Grenze und werden durch ständige Telefonate mit verstörten Hörern ersetzt Denn das Radio will dein schmeichelnder Freund sein – tausend Werbe-CDs verschenken die Freudenfunker an diejenigen, die live zugeben, ihren Sender zu hören.
Die Moderatoren leiden allesamt unter schweren Fröhlichkeitszwangsneurosen. Im prasselnden Wortstakkato verkünden sie der „schönen neuen Welt“, daß alles klasse sei. „Der Tag ist geil. Der Monat ist geil. Das Jahr ist geil.“
Der Hörer spricht
Vor allem im Osten hängt das Herz noch am Radio. Am meisten schimpft man dabei über Fritz!, die „Jugendwelle“ des ORB, die am Ende diverser Abwicklungen (Radio 100, DT 64, Radio 4 U, Rockradio B) entstand und sich „fritzig- frech“ nach dem Spaßguerillero Teufel benannte. „Daß die Nachrichten inzwischen immer mit so flotter Musik unterlegt sind und höchstens zwei Minuten dauern, ist am schlimmsten. Ständig diese fröhliche Musik und dann, 'ach in Somalia, da knallen sie sich wieder ab und in Serbien, da ist ein KZ. Die könnten ihre Nachrichten auch singen“, findet die ehedem begeisterte Radiohörerin Bettina in der Berliner Szenekneipe „Schokoladen“.
Noch wütender ist der Comiczeichner Holger Fickelscherer: „Ich weiß, was ich am liebsten hör': Am liebsten hör' ich meinen Rasierapparat. Da bezahl' ich meine Kilowattstunde, weil ich weiß, was ich davon habe. Einmal in der Woche gehe ich auf den Friedhof, um die Blumen bei Radio 100 [dem hinterrücks gemeuchelten Berliner Alternativsender] zu gießen.“ Fickelscherer beugt sich übers Bierglas: „Also gut. Ich bin nicht mehr fünfzehn und ich bin noch nicht achtzig. Und das sind genau die Zielgruppen, die die anpeilen: von sechs bis fünfzehn und von achtzig bis hundert. Und ich steh' dazwischen, dafür kann ich ja nichts.“
Radio ist schön!
Die Lage ist bedenklich, doch nicht hoffnungslos. Wer vor hunderttausend Käsesorten nicht kapituliert, kann sich durchaus amüsieren. In den Nischen der Nacht findet man zuweilen ganz Merkwürdiges – einen katholischen Novizen etwa, der aufgeregt gegen „dreckige Pornos“ zu Felde zieht, sechs Stunden Roy Black auf dem erfolgreichen rechten Hauptstadtsender Hundert,6 und die Information, daß der Frühverstorbene am gleichen Tag Geburtstag hat wie Janis Joplin.
Der ORB-Star-Moderator Lutz Bertram verwirrt morgens mit seiner lauten, merkwürdig akzentuierten Stimme und seltsamen Sprachbildern Stolpe, Steinkühler und Ekel Scharping; das Weltkulturjournal „Al Globe“ von Radio Brandenburg weht ab zehn durch's offene Fenster hinaus in die Welt. Klassische Kurzhörspiele kämpfen mittags beim Abwaschen wacker gegen den um sich greifenden Zynismus. Gegen die Totalität des immer schon Bekannten (70er-Oldies oder von Computern zusammengestellte aktuelle „Hits“) schaut in Politmagazinen und Features die Welt hinein. Beim Soldatensender BFBS stellt nicht nur die Pop-Legende John Peel neue Musik vor, man erfährt auch in praktischen Hausfrauentips, wie man das Geschirr verpackt auf dem Rückweg nach England.
Am meisten Spaß macht es schon seit Jahren, das Programm der BBC zu verfolgen. Es bietet die ausführlichsten Nachrichten der Stadt, sorgfältige Features – über die indische Community in Kanada oder den fünfzigsten Jahrestag der Erfindung von LSD – auch hervorragend recherchierte Themennachmittage über die Rolle des Islams in der dritten Welt (Scholl-Latour, schäm Dich!) oder altmodisch humanistische „Words of faith“.
Bei der BBC bekommt man ein Gefühl vom Klang der Welt, der einen intensiver an den Dingen teilnehmen läßt als die Bilder des Fernsehens. Und seltsamerweise hat der Sender neben aller Seriosität, die den Tod nicht ausklammert, der in den Bildern oft verschwindet, auch noch Raum für Radioverrücktheiten, die man bei deutschen Sendern schmerzlich vermißt. Den nachmittäglichen Englischkurs mit „Professor Grammar“ zum Beispiel, einem seiner Stimme nach uralten, durchgeknallt-spacigen Lehrer, der seine Schüler mit onkelhaften Witzen bei der Stange hält und manchmal sehr jenseitig lacht.
Schien die Fortsetzung des unter den Druck der Kommerziellen geratenen BBC-Worldservice Anfang des Jahres noch gefährdet, so verkünden inzwischen glückliche Nachrichtensprecher, daß sich britische Politiker aller Parteien für die BBC eingesetzt hätten. Das wird nicht nur die Hörer aus Burma, Pakistan und Dänemark freuen, deren wißbegierige Fragen nach dem Unterschied von „as“ und „like“ oder den Ursachen des Irland-Konfliktes tagtäglich ausführlich erklärt werden, es ist auch ein gewichtiger Grund in Berlin zu bleiben, wo BBC auf UKW zu hören ist.
Früher
„Als ich klein war, haben wir morgens immer die ,Familie Findig‘ gehört. Vorher haben wir nicht das Haus verlassen, bevor wir nicht ,Familie Findig‘ gehört haben. Oder ,Käpt'n Brise‘. Das waren so Sachen, mit denen man sich identifizieren konnte. Oder Kriminalhörspiele. Eigentlich höre ich immer noch ganz gerne Radio, auch wenn das Programm schlechter geworden ist. Wenn ich Radio anmache, dann fühl' ich mich nicht so allein.“ Detlef Kuhlbrodt
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