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Kasperle in der Unterwelt

■ Sommertheater: Premiere von Bia Lessas „Reise zum Mittelpunkt der Erde“

Im Haus von Professor Lidenbrock geht es lebhaft zu. Sehr lebhaft. Die Bewohner meistern ihren Alltag mit gekreischten Monologen und theatralischen Gesten. Dazwischen torkelt eine männliche, dennoch milchgebende Kuh, die mitunter vor sich hin philosophiert. Professor Lidenbrock tritt ein und findet nach quälendem Suchen ein geheimnisvolles Manuskript auf seinem Bauch. Das Schreiben entpuppt sich als Wegweiser zum Mittelpunkt der Erde. Es enspinnt sich eine laute Diskussion, ob eine Reise dahin nicht viel zu gefährlich ist. Lidenbrock beendet die Debatte auf seine Art und verhilft ganz nebenbei dem Publikum zu einer kurzen, aber längst verdienten Ruhepause: Er pflastert den schnatternden Frauen ihr Mundwerk zu.

Mit Jules Vernes Vorbild hat die Inszenierung „Viagem Ao Centro Da Terra“ der brasilianischen Regisseurin Bia Lessa herzlich wenig zu tun. So ziemlich einzige Parallele ist, daß es tatsächlich irgendwann unter die Erde geht. Ansonsten verwandelte sich die Halle 6 auf Kampnagel in ein riesiges Kasperle-Theater für Intellektuelle. Die Inszenierung kennt keine leisen Töne, keinen anderen schauspielerischen Ausdruck als den der Hysterie. Sie arbeitet fortlaufend mit Plattheiten, vermischt mit reaktionärem Kolonialherren-Gehabe. So werden auf dem Weg zum Einstiegsschacht ins Erdinnere dauerniesende Isländer im geographisch deplazierten Eskimo-Look durch Lidenbrocks Pillen im Handumdrehen zu gesunden, Füße küssenden Dummchen. Und Melkerin Crush verfolgt die Abenteurer samt ihrer Kuh an einem von Hamburg nach Island gespannten Seil.

Spaß macht allenfalls das Bühnenbild. Mit ebenso schlichten wie überraschenden Ideen verwandelt Fernando Mello da Costa den Guckkasten in einen Abenteuerspielplatz. Besonders die Parts, die unter der Erde spielen, zeugen von Phantasie. Völlig überraschend ergießt sich eine rauschende Quelle aus den Blechkulissen, entpuppen sich Drahtgestelle als Klettergerüste und Rutschstangen.

Dazwischen poltern die Entdecker, immer noch hysterisch, immer noch mit philosophierender Kuh. Letzerer wird allerdings irgendwann die fragwürdige Ehre zuteil, sich in einen weiteren hektischen Menschen zu verwandeln. Trotzdem versucht er weiterhin, geistreiche Sprüche von sich zu geben. Den Erdmittelpunkt findet der lärmende Abenteurerhaufen nicht, stattdessen irgendwann Italien. Davor stehen allerdings eine Menge Prüfungen wie Durst, Verirrung oder der Kampf gegen Ungeheuer. Irgendwann erkennt Crush dabei: „Ich bin in der Hölle, umgeben von verrückten Menschen.“ So gesehen hat wohl das ganze Stück in der Hölle gespielt. Werner Hinzpeter

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