: Keine neue Grundgesetzänderung
■ Hans-Jochen Vogel zu ersten Erfahrungen mit dem neuen Asylrecht und der kommenden Entscheidung des Verfassungsgerichts
taz: Das neue Asylrecht ist jetzt seit gut einem Monat in Kraft. Die Flüchtlingszahl hat sich bereits halbiert. Trotzdem rufen viele nach weiterer Verschärfung. Wie erklärt sich der ehemalige SPD- Vorsitzende das?
Hans-Jochen Vogel: Es ist in der Tat überraschend, wenn sich Politiker lauthals darüber wundern und erregen, daß man mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde die Einhaltung eines Grundrechts überprüfen lassen kann. Ich muß annehmen, daß diesen Herren die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verfassungsbeschwerde unbekannt sind. Bisher hat ja das Bundesverfassungsgericht im übrigen lediglich vorläufige Eilentscheidungen getroffen, in denen dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht eine sorgfältigere Prüfung nahegelegt wurden. Die heiklen Punkte hat das Verfassungsgericht noch gar nicht behandelt – etwa den völligen Ausschluß richterlicher Korrektur bei der Einreise über einen sogenannten sicheren Drittstaat.
Können Sie sich vorstellen, daß das Verfassungsgericht es akzeptiert, daß nach dem neuen Asylrecht in diesen Fällen keine Einzelfallprüfung stattfindet?
Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Die SPD hatte seinerzeit vergeblich eine andere Regelung beantragt. Ich habe deshalb mit nicht wenigen anderen Sozialdemokraten gegen das neue Asylverfahrensgesetz gestimmt. Den Gerichten zu verbieten, selbst offenkundig rechtswidrige Entscheidungen vor dem Vollzug aufzuhalten – das ist mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Ein solcher Fall ist aber offenbar bisher noch nicht nach Karlsruhe gelangt.
Am Montag gab es den Fall einer armenischen Familie auf dem Frankfurter Flughafen, die gerade noch rechtzeitig aus dem Flugzeug geholt wurde – andernfalls wäre sie rechtswidrig abgeschoben worden. Wie beurteilen Sie denn die bisherigen Erfahrungen mit der Flughafenregelung?
Die Frist von drei Tagen für die Anrufung des Verwaltungsgerichts ist sehr kurz. Sie liegt zumindest an der alleruntersten Grenze dessen, was das Grundgesetz erlaubt.
Die Aussicht, daß das Verfassungsgericht eventuell einige Bestandteile des neuen Asylrechts verwerfen könnte, bereitet vielen seiner Befürwortern Sorge. Die Union fordert deshalb, das Grundrecht auf Asyl durch eine reine institutionelle Garantie zu ersetzen. Wäre das mit der SPD zu machen?
Das halte ich für ganz unwahrscheinlich.
Sie halten es also nicht für ausgeschlossen?
Ich halte es nicht für möglich.
Auch in Ihrer Partei gibt es Stimmen, etwa die Ihres innenpolitischen Sprechers Gerd Wartenberg, die eine erneute Grundgesetzänderung nicht ausschließen.
Das muß während meines Urlaubs geschehen sein. Deshalb kann ich dazu nichts sagen. Ich wiederhole nur, daß die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde für jedermann im Grundgesetz verankert ist. Würde man im Fall bestimmter Grundrechte die Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklären, müßte man fragen, ob es sich noch um ein Grundrecht handelt.
Übrigens wäre es selbst bei einer reinen Institutionsgarantie für Asylbewerber selbstverständlich möglich, die Gerichte und auch das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauches und der Ungleichbehandlung anzurufen.
Bei der Institutionsgarantie statt des Asylgrundrechts käme das Verfassungsgericht aus dem Spiel.
Natürlich wäre das eine weitere tiefgreifende Verschlechterung. Das Asylrecht muß deshalb ein Grundrecht bleiben. Aber es ist ein abwegiger Gedanke, daß man Karlsruhe los wäre, wenn man die Institutionsgarantie einführte. Auch da, wo sich die vollziehende Gewalt keinen Rechtsansprüchen gegenübersieht, ist sie der Kontrolle durch die rechtsprechende Gewalt unterworfen. Dies zeigt, wie oberflächlich hier von einigen Leuten argumentiert wird.
Verbietet nicht schon Artikel 19, ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt anzutasten?
Das ist ein Irrtum. Artikel 19 verbietet nicht, Grundrechte aufzuheben. Artikel 19 verbietet lediglich, ein in der Verfassung verankertes Grundrecht auf kaltem Weg – etwa durch einfache Gesetze – zu beseitigen. Die Grenze für die Beseitigung von Grundrechten im Wege der Verfassungsänderung ist hier der Artikel 1, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt.
Wer das Grundrecht auf Asyl abschaffen wollte, geriete also in Kollision mit dem Grundgesetz?
Das Asyl völlig abzuschaffen und nicht einmal eine Institutionsgarantie zu gewähren, das würde den Artikel 1 verletzen, der nach Artikel 79 unabänderlich ist. Außerdem ist die Bundesrepublik ja Vertragspartner der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Verpflichtungen, die wir dort übernommen haben, können wir nicht umgehen.
Drängt sich Ihnen angesichts der Unionsforderungen nicht der Verdacht auf, daß das Asylthema von Christdemokraten zum Wahlkampfthema gemacht werden soll.
Diesen Verdacht kann ich nicht ausräumen. Ich möchte die Union aber daran erinnern, daß stets die „Republikaner“ oder andere rechtsextremistische Parteien die Nutznießer waren, wenn CDU und CSU das Asylthema in den Vordergrund von Wahlauseinandersetzungen gerückt haben. Interview: Hans-Martin Tillack
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