: Dichter des Schweigens
■ Sommertheater: Sympathische Premiere von Athanor Danzas „La Enfermedad Del Angels“
Alvaro Restrepos Ausgangsgedanke für seine Choreografie La Enfermedad Del Angel (die Krankheit des Engels) lautet: „Die Welt des Autisten ist ein Rätsel“. Wenn man diese mythologisch anmutende Prämisse akzeptiert, was einem beim ständig anwachsenden wissenschaftlichen Bewußtsein über diese Behinderung zugegebenermaßen nicht leicht fallen muß, kann man sich sanft in die sakrale Metaphorik des letztjährigen Pegasus-Preisträgers entführen lassen. Denn wie der Bayer so gerne sagt: „Schee is's scho“.
Mit wenigen Mitteln inszeniert Restrepo erneut eine packende und dichte Atmosphäre, schafft Bilder von schlichter Schönheit und eindringlicher Gestalt. Da beherrscht ein Tor zum Himmel die Vertikale, das zum einen als Wasserfall aus Licht, zum anderen (pardon!) wie ein Lichterdom eingesetzt wird, und aus dem der „Engel“ Restrepo ebenso entschlüpft wie sein siebenjähriges Pedant, der kleine Pedro Figueroa. Uneinsehbare Seitenschiffe und in strenger Reihe gruppierte Riesenmuscheln, die den Ordungszwang des Autisten illustrieren sollen, verstärken die kathedrale Stimmungsmechanik.
Die tänzerische Interpretation der Innenwelt seines autistischen Bruders Gonzalo vollzieht Restrepo in jener magischen Langsamkeit und mit der ihm typischen elastischen Anstrengung, die auch schon Rebis im letzten Jahr ausgezeichnet hatte. Mit zwei Kellen, einer Muschel und einem Kinderstuhl wandelt er sich vom Blinden zur Schnecke, vom Schamanen in einen Vogel und vom Mann mit erigiertem Glied zur Frau mit einer Vagina dentata. Diese sehr gefühlsgeladenen Bilder und Vorstellungen von der Persönlichkeit eines Autisten unterteilt Restrepo in zehn Szenen zu Musik von Arvo Pärt, Bach und Samuel Barber. Wie ein Dichter des Schweigens organisiert er, gelegentlich gemeinsam mit dem Jungen, den Raum zu einer warmen Rede.
Doch anders als Rebis, bei dem die hermetische Form des Ritus meditative Sphären hervorschälte, bleibt das Thema „Autismus“ in seiner sympathischen Hülle stecken. Das Stück wandelt mehr auf den Spuren des Trostes als der Ergründung und verliert sich dabei gelegentlich fast zwangsläufig in religiösen Pathosformeln. Lediglich die vollendete Körperbeherrschung Restrepos verhindert in solchen Momenten den Pesthauch des katholischen Kitsches.
Die Choreografie findet auch nur in ganz wenigen Momenten zwingende Bilder für die autistische Weltordnung und ergreift entscheidende Erscheinungen des Autismus wie Aggressionen oder extrem spezifizierte Talente nicht. Und weil Autismus eben keine rätselhafte Krankheit eines Engels, sondern eine rationale Herausforderung ist, bleibt das vorrangige Gefühl dieser Hommage das der Rührung. Till Briegleb
Bis morgen, Halle 2, 19.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen