: „Fettig, fleischig, viel“
Subjektivität als Methode: Nachwuchsethnologen erforschen die Berliner Imbißkultur ■ Von Bettina Rühl
Leuchtend rot strahlt das Neonlicht aus einer riesigen Plastikwurst, lockt die Kundschaft in die Räume hinter einer unscheinbaren Fassade am Mehringdamm. Wer die Tür durchschreitet, „taucht in das Fremde ein und betritt eine geheimnisvolle Welt“, beschreibt der Ethnologe Siegmund Josten: Er befindet sich in einer deutschen Imbißbude. Auch wenn sich Kindheitserinnerungen an verboten-genußvolle Ernährungssünden mit dem charakteristischen Fettgeruch verweben –, für den Ethnologen ist das Stück deutscher Alltagskultur, das buchstäblich am Straßenrand liegt, der Ausschnitt aus einer exotischen Welt. „Exotisch ist alles, was einem auffällt – weil es etwas besonderes ist, oder weil man plötzlich einen Blick dafür entwickelt hat und aufmerksam geworden ist.“ Für den Ethnographen als „Wissenschaftler vom Fremden“ sei daher auch die Heimat ein weites Forschungsfeld.
Praxisnah lehrt Josten „Methoden der Ethnologie“ an der Freien Universität. Das „Feld“, jener Lebenszusammenhang, den es zu erforschen gilt, liegt für die 26 SeminarteilnehmerInnen buchstäblich vor der eigenen Haustür: Fünf Imbißbuden im Stadtbezirk, ausgewählt nach dem Wohnort der NachwuchsforscherInnen.
Als wenig alltäglich hatte Josten die Beobachtung empfunden, die seine Neugier am fremdartigen Leben weckte: Zwischen Currywurst und Pommes Frites waren ihm in einem der Schnellrestaurants die intensiven Kontakte zwischen Wirt und KundInnen aufgefallen – „selbstverständlich ist das bei uns ja nicht“, fand der Ethnologe, und der Forschungsgegenstand war gefunden. Steigenden StudentInnenzahlen und schmalere Budgets führen immer häufiger dazu, daß der ethnologische Nachwuchs die methodischen Grundlagen auf heimatlichen Straßen sammelt.
„Essen Sie öfter an Imbißbuden?“ „Nie“, behauptet der kauende Gast, Hunger habe er keinen, und seine Frau würde ihn zu Hause mit einer warmen Mahlzeit empfangen. Sprach's, und orderte umgehend eine zweite Currywurst. Ähnliche Schwierigkeiten waren für die StudentInnen wieder und wieder eine Lektion für die Bedeutung der „Interaktion“ in der Ethnologie: Ohne das handelnde Miteinander von Forscher und Erforschtem bleibt die Ethnologie zwangsläufig ohne Ergebnis. „Rapid Rural Appraisal“ (Schnelle qualitative Einstufung, RRA) heißt die Methode, an der sich die StudentInnen orientieren sollten. Entwickelt wurde sie in den siebziger und achtziger Jahren, um möglichst schnell die Brauchbarkeit ländlicher Entwicklungshilfeprojekte zu erforschen. Nur bedingt anwendbar war sie bei dem Versuch, den Deutschen in Fast-Foot- Buden aufs Maul zu schauen. Doch durch den Zwang zu methodischer Kreativität lernten die StudentInnen wichtige Arbeitsgrundlagen. Mit der „angemessenen Ungenauigkeit“ und der „optimalen Ignoranz“ aus dem Rüstzeug der RRA, also möglichst offenen Fragen, begaben sich die StudentInnen ins Feld und suchten Inspiration beim gemeinsamen Bulettenverzehr. Und stießen auf Öffnungsrituale. Eine „Torwächterin“ verstellt den Fremdlingen den Weg zu den Mysterien der kleinen Gesellschaft aus Stammgästen. Zugang zum „Feld“, der Bude „Futtern wie bei Muttern“ im Wedding, bekam das Forscherteam erst, nachdem die Kellnerin den Eindringlingen den Weg freigegeben und die Vermittlung von Kontakten zur Kundschaft versprochen hat. Klare Grenzen setzte auch die Wirtin vom Imbiß am Prenzlauer Berg: „Gegen die Fragen habe ich ja nichts, aber in die Bücher lasse ich mir nicht gucken“, beschied sie die Fremden, sprach's und ging die Toilette putzen.
„Ich frage mich ja immer, was die ganze Fragerei soll“, fragte sich die Bedienung in „Futtern wie bei Muttern“. Warum sie am Imbiß äßen, fragte ein Student – was er denn nun wirklich wolle, fragten die Gäste zurück. Nicht doch in Wirklichkeit ein Zeitungsabo verkaufen? Oder ein Teflonset? Vielleicht spionieren, um nachher selbst eine Bude aufzumachen?, mutmaßte mißtrauisch ein Geschäftsführer. Erklärende Worte über universitäre Pflichten. Berufsziel: Entwicklungszusammenarbeit. Fortan wurden die Nachwuchsethnologen mit freundlichem Desinteresse bedacht und durften gewähren. Im Frage-Antwort-Spiel läßt sich der „klassische Konflikt“ aller Ethnologen erkennen: Für die „Erforschten“ selber war das Treiben der „Forscher“ offensichtlich ziemlich nutzlos – „wir waren uns deshalb immer wieder unsicher, woher wir unsere Berechtigung nehmen“.
Gefuttert wird „bei Muttern“ im Stil der fünfziger Jahre: „fettig, fleischig, viel“. Doch nicht nur der Hunger treibt die Stammkundschaft an die Fast-Food-Töpfe: die Kellnerin, als Dienstälteste an der hierarchischen Spitze, leistet nebenbei unbezahlte Sozialarbeit. Zeit für ein Gespräch findet sie fast immer. Soziologen haben ähnliche Beobachtungen gemacht: Nicht nur Preis und Schnelligkeit lassen Fast-Food-Buden und Imbißstände seit den fünfziger Jahren in den deutschen Großstädten boomen. Selbst im weiß gekachelten Schnellrestaurant und auf unbequemen Barhockern hat die gemeinsame Mahlzeit ihre „sozialisierende Kraft“ noch nicht verloren, fand Charlotte Brinkmann in einer Studie von 1990 heraus. Für eine wachsende Zahl von Singles wird der Mythos Familie im Fettdunst Realität.
Repräsentativ sind die Ergebnisse der Gruppe kaum: zu wenig Daten wurden erhoben, zu zufällig war die Auswahl und „Subjektivität“ entpuppt sich als eine Methode der Ethnologie, die ihren Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität in einigen Schulen längst aufgegeben hat.
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