: Hände weg von Mustang
Das „verbotene Königreich“ im Himalaya wurde für Trekking-Tourismus geöffnet ■ Von Colin Goldner
Ungezählt sind die Sagen und Mythen, die sich um die Bergriesen des zentralen Himalaya ranken. Eine der Sagen berichtet von einem kleinen Königreich hoch in den Bergen jenseits des Dhaulagiri, dem geheimnisvollen Land der Menschen von Lo. Frühe Tibet- und Nepalreisende wollen dieses Land gar mit eigenen Augen gesehen haben.
In modernen Reiseführern freilich ist nichts davon verzeichnet. Kein Wort über Lo. Ein genauerer Blick allerdings auf die Landkarte Nepals scheint die alten Berichte zu bestätigen: Im Nordwesten des Landes, hart an der Grenze zu Tibet, gibt es tatsächlich eine abgeschiedene Bergregion mit einer Hauptstadt namens Lo oder Lo Manthang. Die Gegend, gleichwohl auf dem tibetischen Hochplateau liegend, gehört zum Staatsgebiet Nepals und wird als Upper Mustang bezeichnet. Erst unlängst wurde das bislang absolut verbotene Sperrgebiet für Ausländer zugänglich gemacht.
Vor über dreißig Jahren, nach der gewaltsamen Annexion Tibets durch die Chinesen, war Upper Mustang zur „verbotenen Zone“ erklärt worden. Das Gebiet diente als Stützpunkt für exil-tibetische Guerillakämpfer (Khampas), die, ausgerüstet und trainiert durch die CIA, von hier aus den Widerstand in ihrem Land organisierten. Nachdem die USA in der Ära Nixon/ Kissinger ihr Handelsinteresse an China entdeckt hatten, waren die zuvor unterstützten Khampas plötzlich sehr lästig. Man übte Druck auf die nepalesische Regierung aus, sich der kämpferischen Tibeter in Upper Mustang zu entledigen. Nepal ließ Truppen aufmarschieren.
Eine drohende militärische Konfrontation wurde insbesondere durch Einschreiten des Dalai Lama verhindert, der in einem eindringlichen Tonband-Appell die Khampas zur Niederlegung ihrer Waffen aufforderte; ohne Unterstützung von außen hätten sie keine Chance gehabt. Die tibetischen Guerillas zogen aus Upper Mustang ab, die meisten nach Dharassalam, dem Exil-Regierungssitz des Dalai Lama in Nordindien. Upper Mustang mit seinen fünftausend Einwohnern blieb dennoch Sperrgebiet, für weitere Jahrzehnte völlig von der Welt abgeschnitten.
Erst im März 1992 wird das Gebiet wieder für Ausländer zugänglich gemacht für eine begrenzte Zahl und eine Trekking-Gebühr von 700 Dollar. Daß diese für einheimische Verhältnisse aberwitzigen Summen – eine Trekking-Gebühr entspricht dem Fünfzigfachen eines durchschnittlichen nepalesischen Monatseinkommens – tatsächlich, wie offiziell verlautbart, irgendwelchen Entwicklungsprojekten in der Region Upper Mustang zufließen, darf bezweifelt werden. Den Trekker selbst, der sich für seine 700 Dollar das Humboldtsche Hochgefühl erkauft, einen der letzten „weißen Flecken“ auf der Landkarte erkunden zu dürfen, kümmert es wenig, wohin sein Geld letztlich verschwindet.
Da es in Upper Mustang keinerlei touristische Infrastruktur gibt, weder Verpflegung für Reisende noch Unterkunft, muß grundsätzlich alles, was auf dem Trek benötigt wird – Nahrungsmittel, Koch- und Eßgeschirre, Bekleidung, Zelte, Schlafsäcke, Medikamente etc. –, mitgeführt werden. Ohne Träger oder angemietete Tragetiere samt Führer ist dies gänzlich unmöglich. Die Logistik des Treks übernimmt eine der staatlich lizenzierten Agenturen in Kathmandu, über die sämtliche Vorbereitungen laufen müssen; individuelles Trekken in Upper Mustang ist nicht erlaubt. Die Ausrüstung wird in der Regel in Pokhara zusammengestellt, einer kleinen Stadt, 200 Kilometer westlich von Kathmandu. In einem Sechstagemarsch wird sie dann entweder per Träger nach Kagbeni transportiert, dem Ausgangspunkt des Treks nach Upper Mustang, oder per Flugzeug nach Jomsom gebracht, einen halben Tag von Kagbeni entfernt. Das benötigte Kerosin muß in jedem Fall zu Fuß befördert werden.
Alle Reisevorbereitungen besorgt vorab und gegen entsprechendes Entgelt die Agentur. Zwischen 40 und 70 Dollar verlangt diese pro Trekker und Tag, bei Gruppen von durchschnittlich zwölf bis vierzehn Teilnehmern und einer Trekkingdauer von acht bis zehn Tagen eine erkleckliche Einnahme.
Es war eben diese in den letzten fünfzehn Jahren zu einem enorm wichtigen Wirtschaftsfaktor herangewachsene Touristik-Industrie Nepals, die 1990, nach der Revolution gegen König Birendra, ihren Einfluß bei der neu zusammengestellten Regierung geltend machte. Gefordert wurde eine Ausweitung der Trekking-Gebiete und insbesondere die Öffnung Upper Mustangs, das als „vergessenes Königreich im Himalaya“ vorzügliche Vermarktungsmöglichkeiten versprach.
Solche Forderungen stießen freilich auf vehementen Widerstand seitens nationaler wie auch internationaler Natur- und Umweltschutzorganisationen, die auf die desaströsen Auswirkungen des bisherigen Massentourismus im Himalaya hinwiesen: Zigtausende an Bergsteigern und Trekkern pro Jahr allein in den Regionen Sagarmatha (Mount Everest), Annapurna und Langtang/ Helambu hätten diese hochsensiblen Gebiete an den Rand des ökologischen Kollapses gebracht. Ganze Bergvölker wurden zu Sklaven der Tourismusindustrie. Besonders stark gegen die geplante Ausschlachtung Upper Mustangs engagierten sich die Umweltschützer des Annapurna Conservation Area Project (ACAP), das dem in Nepal sehr einflußreichen King Mahendra Trust for Nature Conservation (KMTNC) angegliedert ist, der wiederum dem international höchst reputierlichen World Wilde Fund for Nature (WWF) zugehört.
Der Widerstand brachte zunächst den Kompromiß einer Erschließung im Sinne eines „sanften Tourismus“ in Upper Mustang: eine begrenzte Zahl von 200 Trekkern pro Jahr, denen strengste Verhaltensmaßregeln auferlegt werden sollten; jeder Besucher Mustangs sollte eine Erklärung unterzeichnen, die Umwelt sauberzuhalten, das religiöse und kulturelle Erbe des Landes zu respektieren, den Einheimischen weder Geld noch sonst irgend etwas zu geben und nicht von der vorgeschriebenen Route abzuweichen. Zur Kontrolle sollte ein sogenannter Environment Officer, ein extra dazu abgesteller Regierungsbeamter mit Polizeibefugnis, jeden Trek begleiten.
Am Tag vor Beginn des Bewilligungszeitraumes trifft die Reisegruppe in Kagbeni die letzten Vorbereitungen für den Abmarsch. Pro bezahlendem Trekker sind in der Regel vier bis fünf Träger vorgesehen; dazu kommen Tragetiere nebst Führern (donkey-men), die Reitpferde mit ihren Betreuern, ein Koch samt assistant cook, ein oder zwei Mitarbeiter der Trekking-Agentur, einige local guides, der Environment Officer – eine Gruppe von zwölf Trekkern ist letztlich in einer Karawane von siebzig und mehr Personen und mit bis zu dreißig Tieren unterwegs. Der Preis für das Zehntage-Abenteuer „Upper Mustang“ erreicht pro Trekker leicht einen Betrag von 5.000 bis 8.000 Mark.
Passiert der Trek das Verbotsschild am Ortsausgang von Kagbeni, betritt er wie in einer Zeitreise eine eigentlich längst versunkene Welt. Langsam zieht die Karawane am Ostufer des heiligen Kali-Gandaki-Flusses hinauf. Vorbei am Kloster Gompa-Kang nach Tangbe, und dann, im Schatten des Nilgiri-Massivs, weiter nach Chhuksang, einem Dorf an der Mündung des Narshang-Kola in den Kali-Gandaki. Über dem Fluß sind in schwindelnder Höhe spektakuläre Erosionen zu sehen, rostrote Orgelpfeifen aus Felsgestein. Der Weg führt hinauf nach Chele, einem Dorf auf über 3.000 Metern, das bereits die tibetische Kultur der Lo-bar zeigt: Die meisten Häuser sind mit den Hörnern von Schafböcken und mit einem Geflecht aus Zweigen und Wollfäden in fünf leuchtenden Farben, Zor genannt, geschmückt, die böse Geister abhalten sollen. Auf einem Trampelpfad, vorbei an dem Dorf von Gyagar auf der anderen Seite eines gigantischen Canyons, geht es in endlos scheinendem Aufstieg hinauf nach Geling, auf über 3.600 Meter. Der Weg führt vorbei an zahlreichen Chörten, uralten buddhistischen Gebetsschreinen. Die Landschaft ist von bizarrer Unwirklichkeit: kein Baum, kein Strauch, nichts, was hier gedeihen könnte. Ein kalter Wind bläst einem den ganzen Tag Staub ins Gesicht.
Der dritte Tag des Treks bedeutet den Aufstieg zum Nyi-La-Paß auf fast 4.000 Meter, die südliche Grenze des eigentlichen Königreiches von Lo. Man überquert auf einem sanften Abstieg den Tamang- Chu-Fluß und erreicht das Dorf von Charang. Am östlichen Ende des Dorfes die immer noch bedrohlich wirkenden Überreste einer Raubritterburg (Dzong), daneben ein Kloster mit leuchtendroten Mauern. Das Kloster besitzt eine berühmte Sammlung an buddhistischen Statuen und Bildern (Thankas).
Am vierten Tag erreicht man das Tholung-Tal. Nach kurzem Anstieg auf 3.800 Meter erblickt man vor sich die Mauern von Lo Manthang. Der Grundriß der Stadt ist exakt rechtwinklig, geformt wie ein riesiges „L“. Im unteren Teil befinden sich rund 150 Wohnhäuser, daneben religiöse Gebäude und der Königspalast; im oberen Teil liegt ein großer Klosterkomplex. Eine Schule, ein Health Post und mehrere bedeutende Gebetsschreine liegen außerhalb der Mauer. Die Klosteranlage stammt aus dem frühen 15. Jahrhundert und beherbergt eine gigantische Statue des Buddha Maitreya, der, auf einem Podest sitzend, das ganze Untergeschoß ausfüllt. Die Wände sind mit feingliedrigen Meditationsbildern (Mandalas) bemalt. Der Königspalast, ein beeindruckendes vierstöckiges Gebäude, liegt in der Mitte der Stadt. Der König, Lo Gyelbu Jigme Parbal Bishta, ist ein Mann in seinen Sechzigern. Politisch hat er nicht mehr viel zu sagen, er kümmert sich auch lieber um seine Pferde und seine furchterregenden tibetanischen Mastiffs. Die mei
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sten Häuser in der Stadt sind zweistöckig, um einen Innenhof herum angelegt. Das Leben spielt sich im Obergeschoß ab, während sich im Untergeschoß Viehställe und Vorratsräume befinden. Alle Häuser haben ein Flachdach, auf dem Wacholderzweige und sonstiges Feuerholz gestapelt werden. Die Menge des Holzes zeigt den eigenen Wohlstand an, es wird nur zu zeremoniellen Zwecken verbrannt. Geheizt und gekocht wird in erster Linie mit Yak- und Ziegenmist. Die Menschen leben von dem, was der karge Boden hergibt: Hirse, Gerste, Kohl, Zwiebeln, Tomaten. Nicht jede Familie besitzt Hühner oder Ziegen, ganz zu schweigen von einem Yak. Chang, das obergärige Gerstenbier der Lo-bar, fließt allenthalben und reichlich. Von Lo Manthang aus kann man in einem halben Tag hinaufreiten zum Kloster von Nyamdo, direkt an der chinesischen Grenze. Auf dem Rückweg nach Kagbeni kann man bis zur Paßhöhe von Nyi Lam eine andere Route einschlagen. Der Besuch des Klosters von Lo Gekar führt allerdings auf eine Höhe von weit über 4.000 Meter hinauf.
Soweit der „ideale“ Trek. Die Realität ist jedoch weniger idyllisch. Kurz nach dem mühsam erzielten Kompromiß von nur 200 Erlaubnisscheinen pro Jahr wurde die Zahl vom Tourismus-Ministerium erst auf 400, dann auf 600 und zuletzt auf gegenwärtig 1.000 angehoben. Zusammen mit den Trägern und Führern überfluten somit mehr Besucher Upper Mustang, als die Region Einwohner hat. Zur Hauptsaison sind mehrere Treks gleichzeitig unterwegs, die sich die besten Lagerplätze streitig machen. Nicht alle Trekker halten sich an die vereinbarten Regeln: Mit Video- und Fotokameras bewaffnet, fallen sie über die Dörfer her, dringen in Privathäuser ebenso ungeniert ein wie in buddhistische Klosteranlagen – schließlich hat man ja 700 Dollar „Eintrittsgeld“ bezahlt. Für ein paar Rupees Baksheesh drückt der Environment Officer beide Augen zu. Aus einem Kloster bei Geling sind bereits mehrere Kunstwerke verschwunden – ob gestohlen oder von Einheimischen verhökert, ist völlig unerheblich.
Auch mit der Abfallbeseitigung nehmen es viele Treks nicht sehr genau, am wenigsten natürlich die Träger, die ja alles schleppen müssen. Die Lagerplätze sehen oft entsprechend aus: Cola-Dosen, Toilettenpapier, Kothaufen. Selbst in den Höhlen mit den buddhistischen Wandmalereien und Gebetsschreinen, deren Betreten streng untersagt ist, sah man schon Touristen herumklettern. Ein Hochglanz-Magazin für Extremsportler preist in seiner neuesten Ausgabe Upper Mustang, gerade seiner Höhlen wegen, als Geheimtip für Free-Style-Climbing.
Und was haben die Menschen von Lo von all dem Rummel? Gewiß, das Versprechen, von den eingenommenen Trekking-Gebühren die verfallenen Gompas (Klosteranlagen) und Chörten (buddhistische Gebetsschreine) restauriert zu bekommen, läßt sie vieles ertragen. Auch eine Verbesserung des Bildungswesens und der medizinischen Versorgung wäre natürlich wünschenswert. Bislang allerdings haben sie hiervon wenig gesehen. Und in die eigene Tasche bringen derlei Vorhaben keinen roten Rupee. Tiefe Ressentiments gegen die Trekker-Kolonnen beginnen sich zu regen. Im letzten Jahr, so ein vielerorts kolportiertes Gerücht, sei ein Trekker von einer aufgebrachten Menge erschlagen worden. König Jigme, der zu Beginn noch jedem Besucher eine persönliche Audienz gewährt hatte ist zurückhaltender geworden: „Tourismus an sich ist gut. Schlecht sind nur die Touristen.“
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