■ Stadtmitte
: Vom Streß der ersten Schulwochen

Nach sechs Wochen Ferien freuen sich fast alle SchülerInnen wieder auf die Schule. Diese Freude konzentriert sich weniger auf die LehrerInnen und den Unterricht. Nach sechs Wochen fehlen einem die KlassenkameradInnen erheblich. Doch schnell weicht die Freude dem Streß. Die meisten Eltern, aber auch viele LehrerInnen, können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, ständig nach kaum nachvollziehbaren Leistungskriterien bemessen und beurteilt zu werden. Täglich Noten! Benotete Hausaufgaben oder Übungsarbeiten, eine Vielzahl von Klassenarbeiten und die oft praktizierte Benotung mündlicher Mitarbeit im Lehrerkalender stressen die SchülerInnen und können ihnen Schule schlichtweg verleiden. Leistung, nicht soziale Kompetenz scheint zur Zeit in unserer Gesellschaft am höchsten im Kurs zu stehen. Zunehmend werden in Berlin grundständige Gymnasien (ab Klasse 5) eingerichtet. Aber auch die für Berlin neuen Schnell-Lern-Klassen („Expreß-Abi“), das Lieblingskind von Schulsenator Klemann und der Berliner CDU, sprechen eine deutliche Sprache.

Nicht die Unterforderung ist das Hauptproblem für SchülerInnen. Konkurrenz und Leistungsdruck erzeugen Aggressivität oder Verweigerungshaltungen. Überehrgeizige Eltern setzen ihre Kinder unter enormen Druck. Erschreckend, wie die Erteilung von Nachhilfeunterricht zugenommen hat. Schon in den 5. und 6. Klassen an Gymnasien erhalten mehrere Kinder jeder Klasse Nachhilfe! Eine perverse Situation, wie auf diesem „zweiten LehrerInnenarbeitsmarkt“ durch das Versagen von Schule abgesahnt wird. Oft zahlen Eltern willig, weil sie individuelle Unzulänglichkeiten bei ihrem Kind festzustellen glauben, während meistens bildungspolitische Fehlentwicklungen oder Unzulänglichkeiten die Gründe sind. Eine humane Schule haben wir nicht. Der pädagogische Grundsatz, daß „der Lernende da abgeholt wird, wo er steht“, hat oft nur für die Lehrerausbildung Bestand, nicht aber im Schulalltag. Für LehrerInnen bestimmen Überforderungssituationen auch den Schulbeginn. Tausend Kleinigkeiten sind zu organisieren, Materialien zu besorgen, Arbeitsplätze zu erstellen, neue Lerngruppen mit ihren spezifischen Problemen kennenzulernen. Die jetzt seit einem Jahr geltende Arbeitszeitverlängerung für LehrerInnen ist von diesen zu Recht als Geringschätzung ihres pädagogischen Engagements verstanden worden. Darüber hinaus steht durch Stundentafelverkürzungen weniger Zeit für die SchülerInnen zur Verfügung, während gleichzeitig die Anforderungen steigen. Von LehrerInnen erwartet man, den SchülerInnen nicht nur ein Höchstmaß an Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, sondern sie auch zu selbständigen, selbstbewußten und zu Gewaltfreiheit fähigen Menschen zu erziehen. Steigende Frequenzen und akute Raumnot in den Schulen verschlechtern die Möglichkeiten positiver pädagogischer Arbeit.

Schulsenator Klemanns Konzepte sind kein Ausweg aus der Krise. Die Einführung von Ethik oder Religion würde nichts helfen. Für eine Pädagogik, die vom Kinde ausgeht, sind die reformpädagogischen Ansätze längst vorhanden und weiterzuentwickeln. Was fehlt, ist der politische Wille, hieraus Konsequenzen zu ziehen und Raum und Zeit für SchülerInnen zur Verfügung zu stellen. Denn Schule wird heute nicht durch pädagogische Überlegungen, sondern zunehmend durch Rotstift-Politiker und Leistungsfetischisten bestimmt. Das kann nicht gutgehen. Erhard Laube

Vorsitzender der GEW Berlin