Proteste gegen Sparkurs bei Thyssen

10.000 Jobs beim Branchenprimus sollen verschwinden / Konzernsprecher klagt, der Konkurrenz würden Schulden erlassen / RWI prognostiziert Verlust von 36.000 Jobs branchenweit  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) – Rote Fahnen und Plakate sind schon lange out im Kampf für Arbeiterinteressen. Jetzt tritt das Holzkreuz an ihre Stelle. Gestern am frühen Morgen recycelten etwa 500 Beschäftigte von Thyssen Stahl in Duisburg 3.000 Stück dieses christlichen Leidenssymbols und stellten sie, wie schon im Juni, vor der Hauptverwaltung des Unternehmens auf. Hernach plazierten sie sich auf der Fahrbahn und packten voll Selbstkasteiung trockne Brötchen und Thermoskannen mit dünnem Tee aus. Es kam zum Stau.

Anlaß der Demonstration war ein erneutes Treffen zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat, bei dem es um die Modalitäten des weiteren Stellenabbaus ging. Bis Ende 1994 sollen rund 10.000 der heute noch 35.000 Arbeitsplätze abgebaut sein. Der Vorstand will den zum 31. Dezember auslaufenden Sozialplan nicht verlängern, der den nach Hause geschickten über 54jährigen eine Ergänzung ihres Arbeitslosengeldes auf 90 Prozent ihres letzten Nettoverdienstes zusichert. Auch betriebsbedingte Kündigungen sollen nicht mehr ausgeschlossen werden. Außerdem will man in der Thyssen- Chefetage am Rentnerweihnachtsgeld und anderen Sozialleistungen sparen. Zu einer Einigung kam es gestern nicht.

Ähnlich wie bei anderen deutschen Stahlschmieden gingen auch bei Thyssen die Aufträge in den letzten Monaten im Vergleich zum Vorjahr um etwa 20 Prozent zurück. „Alle drängen auf den deutschen Markt“, meint Firmensprecher Karlheinz Emonds. Während Finnland, Polen, die ehemalige CSFR und Ungarn früher alle in Richtung Osten lieferten, wollen sie wegen der zusammengebrochenen Ostmärkte heute ihre Verkaufsrichtung ändern. Zwar schottet die EG-Politik die neue Konkurrenz weitgehend ab. Aber wer die Möglichkeit hat, kauft heute vielfach lieber Stahl von dort, weil eine Tonne schon für etwa 500 Mark zu haben ist. Bei Thyssen hingegen geht das Angebot erst bei 700 bis 800 Mark los. Auch in den USA entwickelte Ministahlwerke werden den deutschen Stahlkolossen bald Konkurrenz machen.

Als zweiten Buhmann hat Emonds die marode Konkurrenz im Inland ausgemacht. Die Pleite von Klöckner in Bremen konnte durch einen Vergleich abgefangen werden, bei dem die Gläubiger auf einen Teil ihrer Gelder verzichteten. Und auch der Konkurs von Saarstahl wird nicht zu einer Schließung des Betriebs führen; Landesvater Oskar Lafontaine hat bereits Hilfe zugesagt. „Die können jetzt ohne Schulden auf den Markt und so unsere Preise unterbieten“, meint Emonds. Auch in anderen EG-Ländern würde vielfach direkt oder indirekt subventioniert.

Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) prognostizierte gestern, daß der deutsche Stahlverbrauch in diesem Jahr um mehr als 10 Prozent zurückgehen werde. Allein in Westdeutschland würden 36.000 der 155.000 Beschäftigten bis Ende nächsten Jahres ihren Arbeitsplatz verlieren.