Wieder auftauchen

Jane Campions „Das Piano“ – eine Unterweisung in Zeichensprache.  ■  Von Mariam Niroumand

Wie eine Flaschenpost kommt dieser Film angetrieben, zugleich mit den Hauptdarstellern, die an einem stürmischen Nachmittag an der Küste Neuseelands anlanden. „To Whom It May Concern“ ist Jane Campions Gestus, und wie der Empfänger einer Flaschenpost weiß man sich mit dem Geborgenen allein.

Grau, tief und viel zu nah hängt der Himmel, als Ada, ihre Tochter Flora und ihr Piano von den Männern an Land geschleppt werden. Die Reifröcke hängen naß und schwer, weil Ada sich auf den letzten Metern nicht mehr helfen lassen will. Vernehmlich sprechen kann die Stumme nur durch ihre Tochter oder – das Piano. Viktorianisch festgezurrt in ihren Stützkorsetts, den guten Manieren und der Sprachlosigkeit lebt Ada in demselben Fluidum, in dem die Brontäs Romane schrieben; in der gebändigten, alle Dinge beseelenden Passion. Australien als Landschaft ist diesem fragilen Zustand gegenüber schon an sich rohe Gewalt; die Krähen schreien, Schlingpflanzen wuchern, der sumpfige Boden schmatzt unter dem Stiefel, und die Wellen lecken über das Piano, mit dem Mutter und Tochter ihre erste Nacht am Strand verbringen.

Am Morgen kommt der Mann, dem Ada versprochen ist („hoffentlich hat er Geduld“). Hinter ihm geht ein Trupp von Maoris. Die Frauen zerren kichernd an Adas Schal und Rock, zahnlos und mit wilden Haaren, die Männer sind dumpfe brutes – ohne diese Art von Rousseauismus geht es wohl auch bei Campion nicht, obwohl sie, im Gegensatz zu Herzog oder Costner, in Australien aufgewachsen ist. Das Piano ist am Strand geblieben, der künftige Ehemann Stewart hat sich durchgesetzt.

Hoffentlich hat er Geduld; die Hochzeit findet vor einem bemalten Baldachin statt, eigentlich nur für den Fotografen, eine Hochzeitsnacht gibt es nicht. Stewart und die Tante Morag (spitz-pikiert, wunderbar: Kerry Walker) werden aus Ada nicht schlau; selbst wenn sie die Zeichensprache beherrschten, könnten sie nicht begreifen, wieso sie auf einem eingekerbten Küchentisch Klavier spielt (und etwas zu hören scheint) anstatt ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Flora ist ihnen ein Wildfang mit Untiefen: eines Nachmittags findet Stewart sie im Spiel mit den Maoris, die Beine höchst eindeutig um einen Baumstamm zusammengepreßt. Sie träumt vom Vater als brennender Zeichentrickfigur. Stewart, von dem man zunächst Schläge und Zornausbrüche ob der Zurückweisung durch seine Angetraute erwartet, ist vor allem irritiert. Mit der Frau ist das erste Mal die Möglichkeit von Erotik in sein Kolonialistendasein getreten, und dafür hat er schlicht keine Sprache. Eines Nachts, in einem der schönsten Momente des Films, kommt Ada zu ihm, dreht ihn auf den Bauch, so daß er zur bloßen Empfängnis verdammt ist, und streichelt seinen Rücken und seinen Hintern. Dies ziellose Am-Körper-Entlangfahren macht dem Kaufmann Angst; er schreckt hoch, kann's nicht mit sich geschehen lassen.

Campions Kino ist, wie einer ihrer Kurzfilme sagt, „A Girl's Own Story“ (1983). Gut möglich, daß zuviel Gestagen im Blut den Zugang versperrt; speziell in Cannes, wo der Film ausgezeichnet wurde, sollen viele Herren wütend aus der Vorstaellung gelaufen sein. Unsereins ist da womöglich ganz unmittelbar physisch ausgesetzt: Wenn Janet in „Angel at My Table“ mit der ersten Menses zu ihrer Mutter läuft oder nach der verdrucksten Liebesnacht mit dem Schreiberling die Zähne zusammenbeißt; wenn die Protagonistin aus „Sweetie“ vor dem Inzest vom Baum fällt, sieht man im Kino so manche unruhig hin und her rutschen. Daß Campions – oft pittoreske – Bilder von saftigen grünen Wiesen, vom blauen Meer, auf dem ihre Protagonistinnen der Pubertät davonfahren oder von den Holzbänken, auf denen sie ihre Tagebücher schreiben, nicht unsere sind, ändert daran erstaunlich wenig. Plötzlich stellt sich dieses Gefühl ein, was zuletzt in den siebziger Jahren herrschte: verbunden zu sein mit diesen Sisters, mit Emily, mit Ada, mit Flora oder Janet.

Ada will ihr Piano wieder. Baines (Harvey Keitel), der Nachbar, ein Analphabet, schlägt ihr einen Handel vor. Sie soll ihm Stunden geben. Er will nur zuhören. Er will ihr das Klavier wiedergeben, wenn sie für je fünf schwarze Tasten ein Kleidungsstück auszieht. Manchmal sitzt er nackt und hört ihr zu. Dann sieht Keitel aus wie Goyas Riesen, kriegerisch, lüstern, wild und liebend. An keiner Stelle tut der Film so, als könnten oder sollten die „Zivilisierten“ hinter ihre Kultur zurückfallen und als entfesselte, vom sprachlichen Ballast befreite Tiere übereinander herfallen. Campion weiß, wieviel Gewalt in diesem D.-H.-Lawrence-Credo steckt, und läßt uns von dieser Gewalt zum Ende des Films eine Menge sehen. Im Haus von Baines gibt es nie eine Totale, man sieht immer nur Fragmente: einen Stiefel, spielende Finger, ein Schulterblatt, die Liebenden durch das Guckloch, durch das der Ehemann sie schließlich erspäht.

Sekundenlang sieht man, nachdem die Katastrophe im Dschungel eskaliert ist, Himmel und Hölle in einem Bild, den Tod und die große Möglichkeit, sich an der eigenen Intelligenz wieder aus dem Abgrund heraufzuziehen. Up from down under steht in der Flaschenpost.

„The Piano“. Buch und Regie: Jane Campion, Kamera: Stuart Dryburgh, Mit Holly Hunter, Harvey Keitel, Sam Neill, Anna Paquin. Australien, 1992, 120 Min.