Vierzig Tage in der Wüste

Ein Gespräch mit dem Regisseur Andrew Birkin über „Der Zementgarten“  ■ Von Christiane Peitz

taz: Mr. Birkin, Sie wollten Ian McEwans „Zementgarten“ schon vor über zehn Jahren verfilmen, erst jetzt kam es dazu. Was hat Sie an dem Buch interessiert?

Andrew Birkin: Als ich den Roman das erste Mal las, habe ich mich sofort in ihn verliebt. Er hat bei mir viele Saiten zum Klingen gebracht, fasziniert hat mich vor allem, wie McEwan von der Adoleszenz erzählt.

McEwan beschreibt ja eine sehr seltsame Welt: ein graues Haus am Stadtrand, entrückt vom Rest der Welt. Mich hat das nicht gerade an meine eigene Pubertät erinnert.

Vielleicht erleben Jungen diese Zeit anders als Mädchen. Viele Mädchen scheinen das Stadium der Pubertät gar nicht im eigentlichen Sinn zu erleben, sie überspringen es einfach. Für viele Jungs ist die Pubertät dagegen so eine Art 40 Tage in der Wüste. Man verbringt diese 40 Tage und kommt verändert zurück, nicht unbedingt zum Besseren. Ich mag den Jungen Jack im Film viel lieber, bevor er sich wäscht, ich hatte keine große Lust auf sein sauberes Hemd. Warum zum Teufel zieht er ein sauberes Hemd an?

Der Blick, der auf die Jugendlichen Jack und Julie geworfen wird, ist kein Blick von außen. Wenn am Schluß die Erwachsenen kommen, ist der Film zu Ende. Wie kam diese Innenansicht von Pubertät zustande?

Ich nehme an, das bin ich. Ich identifiziere mich viel stärker mit Jugendlichen als mit Erwachsenen. Vielleicht habe ich die Pubertät selber nie verlassen. Ich mag Leute, die sich in diesem Stadium befinden und bin immer ein bißchen traurig, wenn sie es verlassen. Es ging mir oft so mit Leuten meines Alters oder mit Jüngeren, daß ich eines Tages feststellte, daß sie mich überholt haben und als Achtzehn- oder Neunzehnjährige erwachsener sind als ich.

Vielleicht stecken Filmemacher ja generell in der Pubertät. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand, der ernsthaft erwachsen ist, in der Filmindustrie arbeiten könnte. Orson Welles hat das einmal gesagt: Film ist die beste Modelleisenbahn, die ein Junge zum Spielen bekommen kann.

Wie ist es Ihnen gelungen, jeglichen Geruch des Skandalösen zu vermeiden? Erstaunlich an dem Film ist ja, daß genau wie im Buch die Liebe zwischen Bruder und Schwester am Ende etwas ganz Normales zu sein scheint.

Es ist eine sehr unschuldige Geschichte. Der Skandal hat mich nicht interessiert. Ich wollte nicht, daß die Sex-Szenen wie klassische Sex-Szenen aussehen. Als der Art- director das Drehbuch las, meinte er, sie sollten etwas Heiliges haben. Das war ein schöner Begriff, heilig, aber nicht im prätentiösen Sinn. Und natürlich wollte ich, daß das Publikum diese Liebe nicht ablehnt, sondern selber wünscht, daß die beiden zusammenkommen. Ich wollte den Inzest behandeln wie ..., nein, nicht wie ein Tatsache, eher wie eine romantische Liebe.

Außerdem weiß ich nicht genau, was eine normale Liebesgeschichte ist. Ich verliebe mich immer in Dinge, die nicht normal sind. Die Geschichte ist nicht direkt autobiographisch, aber es hätte mir durchaus passieren können. (Die Schwester des Regisseurs ist Jane Birkin, Anm. d.Red.) Inzest ist sehr viel mehr verbreitet als man gemeinhin denkt, jedenfalls zwischen Bruder und Schwester, besonders in England und vor allem in Wales. Die Gegend, in der ich lebe, hat die höchste Inzestrate. Vielleicht liegt es daran, daß es auf dem Land sonst nicht viel Abwechslung gibt.

Sie haben den Film schließlich mit Bernd Eichinger produziert, angeblich im Tausch gegen ihre Regie bei „Salz auf unserer Haut“. War es wirklich ein Deal?

In gewisser Weise, ja. Ich zögerte, die Regie für „Salz auf unserer Haut“ zu übernehmen, Eichinger fragte mich dann nach diesem Film, den ich schon so lange drehen will. „Salz“ ist kein Film, den ich mir ausgesucht hätte, wenn das Skript einfach mit der Post gekommen wäre. Aber ich mochte ihn immer noch lieber als die meisten amerikanischen Filme.

„Der Zementgarten“ ist eine britisch-französisch-deutsche Koproduktion. Können Filme wie diese nicht mehr allein in England produziert werden?

Doch, das ginge schon, aber nur mit Fernsehgeld. Die Fernsehanstalten hatten aber alle abgelehnt, wegen des Themas. Den fertigen Film hat die BBC allerdings jetzt gekauft. Aber vorher, als sie ihn nur auf dem Papier sahen, waren sie schockiert. Viele mochten auch die Szenen nicht, in denen Andrew masturbiert.

Die Darstellerin der Julie, Charlotte Gainsbourg, ist Ihre Nichte, die Tochter von Jane Birkin, Ned Birkin, Ihr Sohn, spielt die Rolle des jüngsten Bruders. Zwei der vier Hauptdarsteller stammen aus ihrer Familie. Der Hauptdarsteller Andrew Robertson gleicht Ihnen sehr. Welche Folgen hatte das für die Dreharbeiten?

Ich habe das eigentlich vergessen, auch bei meinem Sohn. Ich betrachte meine Kinder ohnehin nicht als „meine Kinder“. Es sind Menschen wie andere auch. Ich habe diese instinktive väterliche Haltung ihnen gegenüber nicht. Charlotte habe ich das erste Mal gefilmt, als sie elf war. Damals drehte Jacques Doillon „Die Piratin“, meine Schwester und ich spielten mit, wir wohnten alle in einem Hotel. Charlotte wollte auch einen Film machen, und ich sagte: „Gut, du führst Regie, ich mache die Kamera.“ Seitdem wollte ich mit ihr zusammenarbeiten.

Ich mag das Rätselhafte an ihr. Auch als Person hat sie ein Geheimnis, sie wirkt sehr verschlossen. Ich habe zuerst in England nach Darstellerinnen gesucht, und keine hatte diese Qualität, sie waren alle zu direkt, zu bodenständig oder zu absichtlich geheimnisvoll.

Es gibt einige unverfilmte Drehbücher von Ihnen, eines heißt „Inside the Third Reich“. Ein Film über den Nationalsozialismus?

Ein Film über Albert Speer. Er hat eine lange Vorgeschichte. Ich war ein Jahr bei Speer in Heidelberg, drei Monate habe ich in seinem Haus gelebt. Ich war 24, er kam gerade aus dem Spandauer Gefängnis. Ich habe viele Tonbandgespräche mit ihm aufgenommen, wir entwickelten eine Art Vater-Sohn-Beziehung. Ich schrieb dann ein Drehbuch, die Paramount kaufte die Rechte und wollte es finanzieren, aber wir konnten uns nicht einigen, unter anderem über den Regisseur. Ich wollte Nicolas Roeg, die Paramount Peter Yates.

Ein Spiel- oder ein Dokumentarfilm?

Ein richtiger Spielfilm. Das Problem lag darin – es war 1972 –, daß zu diesem Zeitpunkt niemand einen Film über die Nazi-Zeit gemacht hätte, in dem Hitler nicht von vornherein verteufelt worden wäre. Bei der Paramount diskutierten sie also ständig, ob sie den Film machen sollten oder nicht. Der Produzent David Puttnam und ich beschlossen daher, das Projekt zurückzuziehen. Wir wollten nicht allzu viele Kompromisse machen.

Es ist seltsam, ich wurde vor zwei Wochen gefragt, ob ich bereit wäre, einen dreiteiligen Fernsehfilm über die Jugend von Adolf Hitler zu machen. Aber ich habe abgelehnt.

Warum?

Als ich den Speer-Film schrieb, zeigte ich Carol Reed das Drehbuch, weil ich seine Meinung hören wollte. Und er rief mich an und sagte, es sei wunderbar, aber so traurig, eine richtige Tragödie. Sie verlieren den Krieg, das ist doch schrecklich.

Genau da liegt das Problem. Wenn das Drehbuch gut geschrieben ist, dann mag man die Hauptdarsteller, und man möchte, daß sie gewinnen. Wie soll man also einen Film über den jungen Hitler machen, über diesen armen Jungen, der seinen Regenmantel verliert, der Bilder malt, aber als Maler nicht erfolgreich ist, sich aber Mühe gibt und so weiter? Und dann steht im Nachspann, er habe später dafür gesorgt, daß sechs Millionen Juden ermordet wurden? Denn wenn der Film gut ist, vergessen die Leute das.

Als ich den Speer-Film schrieb, las ich in seinem Buch, wie er das erste Mal Hitler traf. Es war 1929 in Berlin an der Universität, Hitler sollte vor den Studenten sprechen. Sie hatten in der Zeitung über ihn gelesen und erwarteten einen ziemlich verrückten Typen, aber dann kam da ein ganz normaler Mann im blauen Anzug und sprach zu ihnen. Er schrie nicht, er sprach nur und diskutierte mit den Studenten daüber, daß nicht einzusehen sei, warum sie für die Katastrophe des letzten Krieges zahlen sollten. Speer sagte, es sei ein unglaubliches Erlebnis gewesen: ein Politiker, der mit den Studenten spricht. Nun verfilme ich die Szene; die Rede dauerte drei Stunden, ich habe dafür vielleicht vier Minuten Zeit, also schreibe ich eine wunderbare vierminütige Rede. Im Film kann man keine Fußnoten machen, und zum Beispiel auf den Antisemitismus hinweisen, der in seinen scheinbar klugen Argumenten steckt. Sie werden einfach klug wirken. So ein Film steckt also voller Gefahren. Ob und wie man jetzt einen Film über Hitler machen kann, angesichts des neuen Rechtsextremismus in Deutschland – ich weiß es nicht. Speer hat mir die Briefe gezeigt, die er auf sein Buch hin erhielt, Hunderte von Briefen, auch aus Amerika, in denen die Leute schrieben: „Was war Hitler doch für ein wunderbarer Mensch. Das mit den Juden ist schrecklich, aber er hatte die richtigen Ideen.“

Wie kamen Sie denn darauf, sich mit Albert Speer zu beschäftigen?

Nicht aus besonders ehrenhaften Motiven. Ich ging in England zur Schule, es war die Schule von Winston Churchill. Was die Nazi- Zeit betrifft, habe ich immer nur die britische Version der Geschichte zu hören bekommen, mein Vater hatte im Krieg in der französischen Résistance gearbeitet. Als ich vierzehn war, wollte ich die Erwachsenen schockieren. Also malte ich meine Wand schwarz an und sagte, ich interessiere mich für Hitler. Meine Mutter war entsetzt. Ich kaufte ein Exemplar von „Mein Kampf“, ich las es nicht einmal.

Sie haben es nie gelesen?

Doch inzwischen schon, es ist ziemlich langweilig. Mein Vater schenkte mir „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“. So fing es an. Als ich älter wurde, interessierte mich zunehmend, wie ein Volk diesem Mann so hörig werden konnte.

Was Sie von sich erzählen, wird ja von Sozialarbeitern und Psychologen auch vielen der deutschen Neo-Nazis nachgesagt. Verfolgen Sie den neuen Rechtsextremismus in Deutschland?

Ich bin sicher, wenn ich heute ein Vierzehnjähriger wäre, in Deutschland, würde ich auch Hakenkreuze malen. Ich glaube schon, daß es eine Form der Rebellion ist. Aber ich habe die Entwicklung in den letzten Wochen nicht genau genug verfolgt. Grundsätzlich glaube ich, daß die Deutschen für den Faschismus nicht empfänglicher sind als zum Beispiel die Engländer. Der Unterschied ist nur, daß Deutschland eine ziemlich junge Nation ist, es gibt sie erst seit 1871.

Man muß sich die Anfänge anschauen, um die Ursachen zu begreifen. Kaiser Wilhelm I. machte eine ziemlich unglückliche Figur, und noch unglücklicher war die Art, mit der sein Onkel Edward VII. ihn abschätzig abhandelte. Der Kaiser entwickelte zum Beispiel diese riesigen Schulterstücke, und 1905 organisierte er eine große Marine-Parade, um seinem Onkel zu imponieren. Der kam, warf einen kurzen Blick, machte eine abschätzige Bemerkung und ging wieder. Wilhelm wollte immer von den anderen europäischen Königshäusern akzeptiert werden, aber die gab es seit über 1.000 Jahren, und sie fanden diesen Newcomer ziemlich vulgär.

Wieder eine Geschichte über Pubertät.

Absolut. Deutschland ist eine pubertierende Nation. Kaiser Wilhelm war von den Engländern immer ausgelacht worden. Er benahm sich wie ein Jugendlicher, und von da aus folgt alles weitere, über den Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg. Die psychologische Seite dieses Phänomens interessiert mich wirklich sehr. Aber wie man einen Film daraus machen kann, dafür weiß ich bis heute keine Lösung.