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Kooperativ seit 20 Jahren

In der Haute Provence liegt die „Zentrale“ der Longo-Mai- Kooperativen / 150 Menschen arbeiten und leben dort  ■ Aus der Haute Provence Matthias Thieme

Norma geht bedächtig durch das kniehohe, steppenartige Gras. Den schon halb mit Lavendel gefüllten Leinensack hat sie über die Schulter gehängt. Hügelabwärts läßt die flimmernde Luft den Verlauf der schmalen Schotterstraße verschwimmen, die sich in Serpentinen zu einer Gruppe von alten Steinhäusern hinaufschlängelt: den Höfen von Longo Mai. „Als wir hier ankamen, waren das alles Ruinen. Die Bauern hatten, bevor sie das Land verließen, die Dächer abgedeckt, damit sie keine Steuern zu bezahlen brauchten“, erinnert sich Norma.

Hier, in der Haute Provence, auf einem großen Hügel in der Nähe der Stadt Forcalquier, wohnen und arbeiten heute etwa 150 Genossenschafter in der Kooperative Longo Mai. Sie bewirtschaften ein 300 Hektar großes Landstück. Neben den Höfen befinden sich auf diesem Landstück eine Kfz- Werkstatt, eine Bäckerei, eine Druckerei und eine eigene Radiostation. Gemüseanbau, Schaf- und Geflügelzucht machen die Genossenschafter weitgehend zu Selbstversorgern, ihre Überschüsse bringen sie auf den Markt.

Die Kooperative bei Forcalquier ist die größte in einer ganzen Reihe von Longo-Mai-Kooperativen. So bewirtschaften andere Genossenschafter noch zwei weitere Höfe und eine Spinnerei in Frankreich, je einen Hof in der Schweiz, in Österreich und in der Ukraine, sowie ein Landstück in Costa Rica, wo nicaraguanische Flüchtlinge aufgenommen wurden.

Im Schatten einer Krüppeleiche beginnt Norma die vom Lavendelschneiden stumpf gewordene Sichel zu schleifen. Vor 20 Jahren, im Juni 1973, gehörte sie zu einer kleinen Gruppe von Jugendlichen, die das Landstück in der Haute Provence in Besitz nahm.

Einige der späteren Longo-Mai- Gründer haben sich schon 1969 in Wien zu einer Jugendsektion der Kommunistischen Partei Österreichs zusammengeschlossen. Durch mehrere Demonstrationen, Protestaktionen und zeitweilige Hausbesetzungen erregte die Sektion VI, so der Name der Gruppe, immer wieder großes Aufsehen im sonst von der 68er-Bewegung eher übergangenen Wien. Weil aber eine Solidarisierung mit den Arbeitern Wiens ein Wunschtraum blieb und die KPÖ sie rausschmiß, orientierten sich die Aktivisten um: Zusammen mit Mitgliedern einer Organisation in Basel stellen die Mitglieder Kontakte zu Lehrlingsgruppen verschiedener Länder her. 1970 gründen 150 Jugendliche aus Österreich, der Schweiz, Deutschland und Italien die „Kampforganisation der Jugend ,Spartakus‘“.

Einige Zeitungen versuchten, „Spartakus“ mit der Baader-Meinhof-Gruppe in Verbindung zu bringen, wogegen sich die Aktivisten heftig wehrten. Sie entwickelten den Wunsch, „Überlebensstützpunkte“ aufzubauen – kleine Inseln im Europa der Industriekonzerne – die gleichzeitig als Experimentierfeld für neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens und als Begegnungsplätze für Oppositionelle funktionieren sollten. Wohlwollende Berichterstattung der Presse und großzügige Spenden von Baslern, wo Norma und ihr Mann inzwischen wohnten, ermöglichten den Kauf des Grundstücks in der Provence.

Die neuen Eigentümer gingen auf dem fast 40 Jahre nicht bewirtschafteten Gelände zunächst auf Wassersuche. „Wo mehr grüne Pflanzen wuchsen als anderswo, fingen wir an zu graben“, sagt Norma. Sie legten Quellen frei und Felder an, rodeten Krüppeleichen und kauften eine Schafherde. Von den Tausenden junger Linker, die in den Anfangsjahren die Kooperative besuchten, blieben nur etwa 150. Aber auch andererorts wurden Longo-Mai-Kooperativen gegründet. Das Mißtrauen in der Öffentlichkeit blieb: Es wurde versucht, sowohl das Verschwinden von Dioxinfässern als auch den Untergang der „Rainbow Warrier“ den Longo-Mai-Genossenschaftlern anzuhängen.

Die Gründung der Kooperative liegt nun fast 20 Jahre zurück. Der große Traum vom Auftakt zu einer großen Jugendbewegung war bald zu Ende. Geblieben aber ist das Ziel, in den Bergen ein Experimentierfeld für Alternativen des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu schaffen und gleichzeitig eine Begegnungsstätte für Querdenker. „Mikroökonomie“ ist der Begriff, mit dem die Kooperativen ihr alternatives Wirtschaftskonzept bezeichneten: ein Versuch, die regionalen Unterschiede und Eigenheiten der Umwelt bei der Produktion zu berücksichtigen und den Produktionsablauf so übersichtlich wie möglich zu halten. So ziehen die Schafherden zwischen den verschiedenen Kooperativen hin und her und halten sich je nach Jahreszeit in der für sie geeignetsten Region auf. Die Wolle der Schafe wird in der eigenen Spinnerei zu Kleidungsstükken verarbeitet, welche in den Kooperativen verkauft werden. Lammfleisch dient außerdem zur Ernährung der Genossenschafter. Die Kooperativen der verschiedenen Länder versorgen sich gegenseitig mit Lebensmitteln und Geräten. Zentrum und Sammelpunkt bildet nach wie vor die Kooperative auf dem Hügel in der Haute Provence. Von hier sendet auch „Radio Zinzine“ rund um die Uhr – im Programm sind viele „anderen Nachrichten“. Jeden Sommer wird Longo Mai zum Treffpunkt für bis zu 400 Besucher, die auf den Kongressen über „Europa von unten“ ihre Ideen diskutieren.

Innerhalb der Kooperative hat „andere Europa“ bereits Gestalt angenommen: Genossenschafter aus allen Ländern Europas arbeiten hier. „Zugegeben, wir sind unverbesserliche Utopisten, aber verdammt konkrete“, liest man in den Nachrichten, worauf mit dem provenzalischen Gruß zu antworten wäre: „Longo mai“ – Lange möge es dauern.

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