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Betr.: "Die unsichtbaren Lager"

Unsichtbar sind die Lager, weil das, was sie einst ausmachte, nicht mehr zu erkennen ist. Oder nur dann, wenn man das, was sie einst ausmachte, mit den Mitteln der musealen Pflege erhält und aufbereitet: In Theresienstadt ist der Schriftzug „Arbeit macht frei“ über dem Tor zu Hof 1 frisch gestrichen worden, in Majdanek sind Häftlingskleider, wie um Menschen darzustellen, auf Häftlingsbetten ausgelegt. Es muß gezeigt werden, was war, und zugleich gesichert: In Auschwitz sind Koffer von Deportierten in großen Schauvitrinen ausgelegt, in einer anderen Vitrine Berge von Haaren Ermordeter, in einer weiteren Beinprothesen und Krücken. Das Gedenken heftet sich ans geordnete Beispiel; an die Schürzen von Kindern, an die erhaltene und zu besichtigende Gaskammer („Besuch etwa jede Viertelstunde. Bitte haben Sie Geduld. Danke.“), an das Detail. Das Detail wird aufbereitet, beleuchtet, beschriftet. Der Schrecken, am Ort des Schreckens zu sein, wird zugleich verwaltet und verstärkt, indem sich die Gestalt des Ortes von dem, was ihn einst ausmachte, entfernt. Die KZs, die Museen geworden sind, ziehen Leute an; sie werden zu Zentren des Tourismus, wo fliegende Händler die Besucher versorgen, ausgelegte Bücher sie nach ihren Meinungen fragen, Souvenirshops ihnen ihr Gedenken für zu Hause verkaufen. Auf den Toiletten finden sich sexuelle Graffiti. Mit Bedacht systematisiert, ist das Rowohlt-Taschenbuch „Die unsichtbaren Lager“ wohl die erste fotografische Bestandsaufnahme der Lager als Museen. Begleitet von Texten von Andrzej Szczypiorski, James E. Young und Hanno Loewy, versehen mit einem gründlichen Verzeichnis der Museen, ihrer Orte und Öffnungszeiten (erstellt von Jochen Spielmann), ist dies ein erstaunliches Buch. Der Fotograf versucht, die Stätte als Architektur zu erfassen und als Interieur; auch Fotografien, die ausgestellt sind, werden von Matz wiederum gezielt interpretiert, angstlos vor der Unterstellung, der Fotograf sei nur „reproduktiv“ gewesen. Gegen die objektivierende Form des musealen Gedenkens setzt Reinhart Matz eine subjektive Erfahrung; er nimmt die Perspektive eines imaginären Besuchers ein und schafft so exemplarisch ein individuelles Gedächtnis der Orte. Die entscheidenden Fragen des Gedenkens – vermittelt dieser Bildessay – sind Fragen der Form, der Repräsentation. Der Schock, ein KZ zu betreten, bleibt spürbar (die Fotografie ist empathisch gegenüber den Institutionen, die sie behandelt); und zugleich fürchtet sich Matz nicht vor dem schärfsten Indikator real existierender Widersprüche: Komik. Das Buch, 206 Seiten, schwarzweiß, kostet 29,90 DM. Die Bilder, als Wanderausstellung unterwegs, sind vom 27.8.-31.10. in der Gedenkstätte Sachsenhausen (Oranienburg) zu sehen, vom 9.11.-10.12. im Hamburger Institut für Sozialforschung (Mittelweg 10). Dann: Leipzig und München sowie die Gedenkstätte Buchenwald.

Ulf Erdmann Ziegler

Foto: Reinhard Matz,

Neuengamme 1987. Teilansicht

im Dokumentenhaus

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