: Wo das Erzählen aufhört
Reiner Blick oder moralische Selbstvergewisserung? Das Reden über „Gedichte nach Auschwitz“ ■ Von Ina Hartwig
Im feuilletonistischen Verteilungskampf der künstlerischen Genres wird der Literatur in der Regel eine besondere und innerhalb derer dem Gedicht eine herausragende Rolle zugewiesen. Das zeigt sich nicht nur in dem Platz, der dem Reden über Gedichte eingeräumt wird, sondern auch in der Art und Weise, in der dieses stattfindet. Wenn in deutschen Feuilletons über Gedichte gesprochen wird, geschieht das meistens mit einer Rhetorik des Respekts und der Hoffnung, die keiner der anderen Kunstformen (etwa Film, Theater, Musik, Architektur, Malerei, Roman) jemals zugedacht wird. Zusammenfassen läßt sich das Sprechen über Lyrik in der Formel: „Solange es Gedichte gibt, ist die Welt noch nicht verloren.“
Die in Frankreich immer wieder genüßlich beschworene Krise der Poesie hindert die Wochenzeitschrift Nouvel Observateur nicht daran, über Baudrillards neues Buch naiv zu schwärmen, es sei „schön wie ein Gedicht“. Geht es um Gedichte, schlagen Deutsche gerne einen dramatischeren Ton an – als stehe die Rettung des Genres selbst auf dem Spiel. Gleichzeitig zeigt sich im Reden über Lyrik in Deutschland ein eigenartiger Wille zur Rechtfertigung. Er zeigt sich unter anderem darin, daß, wer über Lyrik redet, das Reden über Lyrik verwirft. So etwa beschließt Peter Hamm seinen in der Zeit erschienenen Aufsatz „Dichter- Dämmerung“ mit einem Zitat Hans Magnus Enzensbergers: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Gedichte, zum Glück, längere Beine haben als alles, was man über Gedichte sagen kann.“
Die Vorstellung, daß im Gedicht das Poetische – Überschüssige – gleichsam in Reinform erscheine, daß poetische Funktionen in ihm ganz besonders gedrängt zusammenfinden und daher ganz besonders wirkungsvoll sind, kombinierte Enzensberger 1962 in dem Essay „Die Entstehung eines Gedichts“ mit der Klage, das Reden über Poesie sei „weit beliebter als die Poesie selbst“. Darüber hinaus habe das Reden über Poesie die Funktion, diese „unschädlich“ zu machen.
In der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter schrieb letztes Jahr Joachim Sartorius: „Niemand kann auf eine Romanzeile so viele Tricks, so viel Lust am Experiment, am Geschachtel, am Kling und Klang aufbringen, wie auf eine Gedichtzeile.“ Aus dieser Idee leitet sich die Vorstellung ab, daß man Gedichtzeilen intensiver als Prosa zu lesen habe. Die Verben, die zur Bezeichnung der in diesem Sinn idealen Gedichtrezeption gerne herangezogen werden, heißen: „verweilen“, „sich versenken“, „innehalten“. Selbst der mit vielen Wassern gewaschene Dichter Durs Grünbein enthält sich, wenn er über Gedichte spricht, dieses konservativen Wortschatzes nicht.
Schon seltsam, was ausgerechnet das Gedicht für Phantasien bindet. Selbst Leute, von denen man es nicht erwartete, sind gegen seine eigenartige Magie offenbar wenig gefeit. Auch sie schließen sich der allgemeinen Auffassung an, daß das Gedicht in einer bösen, ja immer böser werdenden Welt gedeihe. Ihr halte es „stand“, deshalb spende es Trost „mit der tröstlichen Trostlosigkeit seiner Verse“. Wenn Iris Radisch eine derart zuckersüße Dialektik bemüht, um Lesern ihres Feuilletons nahezulegen, sich in Sarah Kirschs letzten Gedichtband zu versenken, dann liefert sie ein Beispiel dafür, was Sartorius und Grünbein ebenfalls widerfährt: rhetorisch hinter sich zurückzufallen.
Um aber bei den Phantasien zu bleiben: Der breite Tenor einer der letzten vorweihnachtlichen Literaturbeilagen der Zeit, die speziell der Lyrik gewidmet war, lautete, der Dichter entziehe sich der Gesellschaft und nütze ihr gerade deshalb. Wie er das tut? Mit der „kunstvollen Gebrochenheit“ seiner Sprache, meint Hans Christoph Buch. Peter Hamm sagt es dialektisch: In der „reinen Nutzlosigkeit“ der Poesie liege ihr „höchster Nutzen“. Man sieht: Im Reden über Gedichte mischt sich der Diskurs des Rühmens mit dem des „reinen Blicks“, wie Pierre Bourdieu das Phantasma autonomer ästhetischer Wirkung nennt. Tatsächlich ist es das gute alte Paar Melancholia und Utopia, das sich aufs neue zu folgender Erkenntnis verbündet: Weil der Dichter so sensibel sei, leide er an der Gesellschaft, und deshalb könne er ihr zeigen, was an ihr schlecht sei, auf daß sie daraus lerne und sich ändere ... Mit dem Appell „Wir brauchen sie – heute nötiger denn je“ schließt Hans Christoph Buch seinen Essay. Gemeint sind die Dichter Lars Gustafsson, Jürgen Theobaldy und Sarah Kirsch.
Diejenigen, die den größten Anteil derer ausmachen, die heute in deutschen Feuilletons über Lyrik schreiben, die Generation der 40- bis 50jährigen, ist durch die ästhetische Philosophie Theodor W. Adornos sozialisiert worden. Adorno hat einen Zusammenhang hergestellt, der das Lyrikverständnis dieser Generation bis heute prägt: den Zusammenhang zwischen Gedichten und Auschwitz. Und dieser Zusammenhang wiegt schwer wie Blei. Adorno, so kann man wohl sagen, hat Auschwitz zu einer lyrischen Metapher gemacht – zu einer Metapher des Redens über Lyrik.
Das 1949 in dem Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ aufgestellte Diktum ist mehr als bekannt: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. 17 Jahre später, in der „Negativen Dialektik“, hat Adorno es, wenn nicht zurückgenommen, so doch klar eingeschränkt. Dort heißt es: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ Zunächst aber stand er da, jener Satz, und entfaltete eine Wirkung, als handele es sich um das biblische Gebot der Kritischen Theorie: Du sollst nicht mehr Gedichte schreiben.
Doch fragen wir einmal, was dieses Gebot genau über das Genre Gedicht und was es über Auschwitz sagt. Zuerst ist festzustellen, daß Adornos Satz eine Implikation enthält, nämlich daß „Auschwitz“ und „Gedicht“ sich ausschließen. „Auschwitz“ scheint nicht nur exemplarisch (metonymisch) für die Vernichtung eines Volkes zu stehen, sondern ebenso für: Sprachlosigkeit. Der Zusammenhang, den Adornos Diktum suggeriert, lautet also: Angesichts dessen, was in Auschwitz geschehen ist, darf es die Sprache des Gedichts nicht mehr geben. Was aber bedeutet dann „Gedicht“? Gedicht bedeutet Sprachkraft, das Gegenteil von Sprachlosigkeit. Sprachkraft aber, so legt Adorno nah, verhöhne, was in Auschwitz geschehen ist, da es ein Leben bejahe, das danach grundlegend problematisch geworden sei.
Gerade weil Adorno aber an der historischen und ästhetischen Überdeterminierung des Gedichts nicht festgehalten hat, ist es verblüffend zu sehen, daß sich im Reden über Gedichte in Deutschland die lyrische Metapher Auschwitz seit Jahrzehnten eisern hält, also der Konnex des Gedichts zum barbarischen, zum deutschen Abgrund. Denn Auschwitz, das bedeutet deutsche Schuld, und diese zu vergessen ist ein Tabu der Bundesrepublik.
Tragisch, zugleich raffiniert, kommt die lyrische Metapher Auschwitz im Motiv des Dichterselbstmords zum Tragen. Häufig wird in diesem Zusammenhang der jüdische, deutschsprachige Dichter Paul Celan genannt, dessen Eltern im KZ umkamen, dessen Poetik beständig auf Auschwitz Bezug nimmt (ohne diesen Namen allerdings zu nennen) und der sich schließlich, 1970, in der Seine in Paris ertränkt hat. Für den in Israel lebenden Jakob Hessing – dessen Aufsatz im Merkur den Titel „Gedichte nach Auschwitz“ trägt – ist klar, wie Celans Selbstmord zu deuten sei: als „Antwort“ auf Auschwitz. Seltsam: Als literarisches Motiv ist der Dichterselbstmord ausgestorben, als rhetorischer Kulminationspunkt der lyrischen Metapher Auschwitz hat er überlebt.
Könnte man eigentlich „Auschwitz“ auch durch „Hitler“ ersetzen? Anders gefragt: Warum heißt es nicht „Gedichte nach Hitler“?
Wer einen Blick in Ernst Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“ (1942) wirft, in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Pippi Langstrumpf“ (1945) und in Jean Genets Roman „Das Totenfest“ (1947), kommt der Antwort recht bald auf die Spur.
Man erinnere sich an die erste Szene aus Lubitschs Film. Ein Mann in Naziuniform steht vor einem Schaufenster, während ein Sprecher aus dem Off die polnischen Namen diverser Ladenbesitzer aufzählt. Plötzlich dreht der von vielen Leuten umringte Mann sich um. Eine Woge von Getuschel geht durch die Menge. Der Mann ist „Hitler“! Aber nur solange, bis ein kleines Mädchen auf ihn zutritt und den Schauspieler Josef Tura um ein Autogramm bittet.
Die Maskerade entlarvt „Hitler“ nicht nur als komische Figur, sondern auch als Schauspieler. Das wird besonders in solchen Szenen klar, in denen Tura seine Hitler- Rolle übt und ihm, zum Beispiel, der wunderbare Fehler unterläuft, das „Heil Hitler“ eines Schauspielerkollegen zu erwidern mit: „Ich heil mich selbst!“
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Astrid Lindgren, die in einem Interview anläßlich ihres 85. Geburtstags erzählt, wie sehr sie Hitler gehaßt habe („Mich wundert es, daß ich an meinem Haß nicht gestorben bin“), hat eine andere Lösung gefunden, sich des deutschen Diktators imaginär zu entledigen. Pippi Langstrumpf sitzt zappelnd auf der Zirkusbank. Als der „schdarke Adolf“, der „schdärkste Mann der Welt“ die Bühne betritt, kann sie der Verlockung nicht widerstehen. Hundert Kronen soll bekommen, wer diesen Mann besiegt. Unter dem ungläubigen Geraune des Publikums legt die Rothaarige ihn flach auf die Matte.
In Genets Roman tritt kein Mädchen auf, um Hitler zu Fall zu bringen. Hitler selbst tritt als lächerliche Figur auf. Genets Umgang mit Hitler bleibt dennoch skandalös, weil er ihn als erotische Figur, wenn auch als geilen, erfolglosen Päderasten verwendet. Alle drei Werke, der Hollywoodfilm, das schwedische Kinderbuch und der französische Roman, wurden während oder kurz nach dem Krieg verfaßt, außerhalb Deutschlands. Es wäre naiv zu behaupten, „Hitler“ meine in diesen Werken die Person Adolf Hitler. Hitler wurde vielmehr noch zu Lebzeiten zur epischen Metapher „Hitler“. Auffällig ist nämlich, daß „Hitler“ oft in epischen Zusammenhängen vorkommt, also dann, wenn erzählt wird. Im Unterschied dazu wird die lyrische Metapher Auschwitz offenbar verwendet, wenn absichtlich nicht erzählt, wenn das Jenseits des Erzählbaren bezeichnet werden soll. Und genau dort wird das Gedicht angesiedelt: wo das Erzählen aufhört. Deshalb heißt es nicht „Gedichte nach Hitler“.
Auschwitz, polnisch Oswieçim, ist zu einem deutschen Begriff geworden, und zwar für das, was in anderen Ländern Shoah und Holocaust heißt. Mit Hitler verhält es sich anders. Über Hitler wird in allen Sprachen gesprochen.
Das muß auch der junge Quedlinburger Rechtsradikale gewußt haben, der letztes Jahr einem Journalisten des Guardian in einem Baustellenwagen betrunken zufeixte: „Hitler ist mein Onkel!“ Natürlich meint auch dieser junge Ostdeutsche nicht die historische Person Adolf Hitler. Er meint die epische Metapher Hitler, deren semantische, aber auch ästhetische Macht ihm wohl bekannt ist und die er in einer aggressiven, speziell deutschen, dreisten, trotzigen, provokativen Variante halböffentlich zur Anwendung bringt.
Harald Juhnke bekam den Ernst-Lubitsch-Preis für seine „komödiantische Leistung“ in dem Film „Schtonk“, der den Stern- Skandal um die gefälschten Hitler- Tagebücher vor zehn Jahren in gebührender Übertreibung aufgerollt. Dieser nimmt seinen Anfang, als ein echter Kunstfälscher einem falschen Kunstschätzer sein gefälschtes Frauenportrait („Eva“) zeigt, das er einem echten Hitler- Anhänger als echten Hitler verkaufen will – woraufhin der Schätzer das falsche Urteil spricht („allerechtester Hitler!“) und der Fälscher den Entschluß faßt, sich ans Fälschen der Tagebücher zu machen. Dabei erleidet er Schrecken der Mimesis: „schreibe die Handschrift des Führers besser als meine eigene“. – Das Lachen über Hitler funktioniert: solange er Metapher bleibt.
„Literatur und Linse“ nannte Enzensberger 1956 einen Essay über Dichtung und Film. Er unternimmt darin den Versuch, Lyrik und Film zu analogisieren: Das lyrische Wort entspreche dem filmischen Bild, der Vers der Einstellung, das Zeilenende dem Filmschnitt. Interessant ist, daß Enzensberger die Lyrik zum Maßstab des Films macht: nicht umgekehrt. Und: daß er die gewünschte artistische Koalition angesicht der ökonomischen (damals sagte man „konsumorientierten“) Verhältnisse für gescheitert hält.
Vor Gedichten verneigt man sich wie vor Grabsteinen. Dabei wird weder die spezielle gesellschaftliche Heilkraft des Gedichts noch die Hierarchie der Genres jemals in Frage gestellt. Aber der apokalyptische Pomp, der sich im Reden über Gedichte etabliert hat, diese Verachtung einer zweiten Rede zugunsten einer ersten, ist wohl ohnehin etwas anderes als er zu sein vorgibt, nämlich moralische Selbstvergewisserung.
Deren Erfolg zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die lyrische Metaphorik (an der Adorno weiterhin seinen Anteil hat) Einzug auch in explizit politische Sprachen gehalten hat. Günter Grass mahnt weise, ein „Verbrechen wie Auschwitz“ nicht zu vergessen, und der ostdeutsche Schriftsteller und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs schreckt nicht davor zurück, angesichts der Stasi-Debatte ein „Auschwitz der Seelen“ auszumachen. Doch die Kollision der Metaphern reicht weiter zurück. Genau ein Jahr vor dem Mauerfall, anläßlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht, hat man die Schauspielerin Ida Ehre im deutschen Bundestag Celans Gedicht „Todesfuge“ vortragen lassen. Unmittelbar darauf sprach der Bundestagspräsident Philipp Jenninger – es gab einen Skandal. Jenninger hatte es gewagt, die Formulierung „Faszinosum Hitler“ zu gebrauchen. Er mußte zurücktreten.
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