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Die neue Dömitzer Elb-Brücke: Bejubeltes Symbol der Einheit und des Aufschwungs Ost, doch das anvisierte Wirtschaftswunder bleibt aus ■ Aus Dömitz an der Elbe Toralf Staud
Oft strampelt nur ein einsamer Radfahrer über die millionenschwere Dömitzer Brücke. Die unter ihm an die Pfeiler klatschende Elbe liegt genauso ruhig da wie der noch nicht abgefahrene Asphalt auf der breiten Straße. Der rot- weiß geringelte Windsack ist prall gefüllt und flattert aufgeregt hin und her. Ein Auto, das er vor gefährlichem Seitenwind warnen könnte, ist weit und breit nicht in Sicht.
Ganz anders kurz vor Weihnachten 1992. Journalisten, Prominente und andere Schaulustige schubsten sich gegenseitig fast ins Wasser. Günther Krause war damals noch Bundesverkehrsminister und gekommen, um das 50- Millionen-Bauwerk einzuweihen. Die Mecklenburger hatten ihren Ministerpräsidenten geschickt, aus Hannover kam der niedersächsische Verkehrsminister. Blaskapelle. Festtagsreden. Dankesworte. Krause: „Von dem Bauwerk sind Impulse für die regionale und überregionale wirtschaftliche Entwicklung beiderseits der Elbe zu erwarten.“ Applaus.
Ein halbes Jahr nach der Zeremonie ist die Euphorie verflogen. Die Arbeitslosenquote von 15 Prozent – ABM-Kräfte, Vorruheständler und Kurzarbeiter nicht mitgerechnet – will und will nicht sinken.
„Ein positiver Arbeitsmarkteffekt ist nicht mit Zahlen belegbar“, gibt Dietrich Sabban vom Arbeitsamt Ludwigslust zögernd zu. Trotzdem glaubt er, den „Aufschwung Ost“ erkennen zu können: „Ich gehe davon aus, daß Betriebsgründungen mit Blick auf die Brücke erfolgen.“ Damit kann er nur die holländische Parkettfabrik meinen, deren Besitzer an der Elbe ein Zweigwerk eröffnen will und im Dömitzer Gewerbegebiet vor etlichen Monaten ein „Hier baut...“-Schild aufgestellt hat.
Auf dem künftigen Industriegelände wuchern derweil Klatschmohn und Glockenblumen um die Wette. Ein paar vergessene Birken scheinen auch wieder Mut gefaßt zu haben. Durch die Fugen des Verbundsteinpflaster-Fußwegs zwängen sich Grasbüschel. Die Natur kehrt zurück auf das mit Bonner Fördergeldern urbar gemachte Terrain. Nur selten wird die Ruhe gestört. Ein paar Halbwüchsige knattern dann mit ihren blankgeputzten Mopeds über den tiefschwarzen Asphalt der Erschließungsstraße. Im Gegensatz zu den löchrigen Fahrbahnen im Dömitzer Stadtzentrum die ideale Rennpiste. Von Investoren ist außer dem giftiggelben Schild der geplanten Parkettfabrik nichts zu sehen. Die einzelne Werkhalle, in der ganz am Rand des Gewerbegebietes immerhin hundert Leute Zündkerzenstecker für BMW und Mercedes bauen, ist nur eine Ausgliederung des einstigen VEB Bauelementewerks. Mit tausend Arbeitsplätzen war es einmal größter Betrieb vor Ort.
Früher, vor 1945, war Dömitz ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt mit florierender Wirtschaft. Die Elbe-Müritz-Wasserstraße mündet hier. Über die 1873 eröffnete Eisenbahnbrücke gab es am Dömitzer Elbhafen vorbei Zugverbindungen nach Dannenberg und Hannover, nach Ludwigslust und Schwerin. Unter Hitler kam noch eine Straßenbrücke dazu, für den wirtschaftlichen Aufschwung, wie es damals schon hieß. Ein paar Jahre später rollten die Truppentransporte. Bei einem Alliierten- Fliegerangriff wurden beide Brücken 1945 zerstört. Die Trümmer rotteten an der DDR-Grenze vor sich hin. Im Osten wurden sie fast vergessen, im Westen als Symbol für die Teilung Deutschlands beschworen.
Kaum war die Grenze 1989 gefallen, ging man an den Wiederaufbau der Dömitzer Brücke. Von der Bevölkerung gefeiert und von den Politikern gewollt, dauerte das Ganze nicht einmal drei Jahre. Das „Symbol der Einheit“ stand. „Gewidmet dem am 3. Oktober 1990 wiedervereinten deutschen Volke“, wie es eine Bronzetafel verkündet.
Auf dem Wohnzimmertisch von Peter Damro stehen zwei verwelkte gelbe Rosen. Der 35jährige Hausherr lümmelt auf seiner braunen Couch, neben ihm ein Stapel Fransen-Kissen, und erzählt von früher, als er noch Arbeit hatte: Peter Damro war Fährmann. Seit Dezember 1989 pendelten Schiffe zwischen Dömitz und dem westlichen Elbufer, sechs Monate später wurde in Holland eine Autofähre angemietet. Die „God met ons“ war eigentlich schon zum Verschrotten vorgesehen, erzählt der Seemann lachend. Dementsprechend war der technische Zustand, Havarien an der Tagesordnung. „Die Leute spotteten schon. Aber ein Seelenverkäufer“, da wird Damro wieder ganz ernst, „war unsere Fähre nicht.“
Damro erzählt von ihrem Test, wie viele Trabis auf die für 15 Pkws gebaute Fähre passen, und daß es genau 21 waren. Oder von der Nacht, als irgendwer den Diesel abgezapft hatte und die „God met ons“ manövrierunfähig auf der Elbe trieb. An Bord auch ein Vertreter, der über sein Autotelefon panisch um Hilfe rief, als die Wasserschutzpolizei schon längst herbeigefunkt war. Oder vom Niedrigwasser im Sommer 1990, als das blau-weiße Fährschiff nicht fahren konnte und ein Dannenberger, der in Dömitz gerade ein Geschäft aufbaute, jeden Morgen mit einem Ruderboot über die Elbe setzte.
Nein, einen Groll gegen die neue Brücke hegt eigentlich keiner der arbeitslos gewordenen Fährmänner, erzählt Peter Damro, während er mit den Füßen seine Hausschlappen auf dem flauschigen Teppich hin und her schiebt. „Es war schon richtig, das mit der Brücke.“ Irgendwo sei schließlich jeder von ihnen untergekommen. Eine Fährhelferin arbeitet jetzt in der Dannenberger Stadtverwaltung, zählt Damro auf, zwei Kollegen haben in Winsen bei einer Fähre angeheuert, ein anderer in Schnackenburg. Ein Fährmann ist jetzt Hausmeister, ein anderer arbeitet bei der Bahn. Nur zwei sind arbeitslos geworden. „Die Brücke mußte wirklich sein“, sagt Damro wieder, „mit der Fähre haben wir es einfach nicht geschafft.“ Ein paarmal, besonders an Wochenenden im Sommer, mußten die Leute auch schon drei Stunden am Anleger warten.
Eigentlich wollte Damro drei oder vier Jahre auf der Fähre arbeiten. „Als Übergangslösung, bis sich bei uns wieder alles normalisiert hat“, erklärt er, „wirtschaftlich und so.“ Doch das rasante Bautempo hat ihm einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Nun macht der stämmige Seemann – bis 1990 war er nautischer Offizier beim Fischkombinat Rostock – eine Umschulung an der „Europäischen Bildungsakademie“ in der Kreisstadt Ludwigslust. Damro hat damit begonnen, Englisch zu lernen. Im Juli 1994 ist er Fremdsprachenkaufmann. Wenn alles klappt. Einen Job werde er schon finden, da ist er ganz optimistisch. Über die Brücke könne er zur Not ja auch nach „drüben“ fahren ...
Das machen seit der Fertigstellung der Brücke viele Dömitzer. „Die meisten von denen sind aber auch schon vorher mit der Fähre gefahren“, betont der Sachgebietsleiter für Wirtschaftsförderung in der Dömitzer Stadtverwaltung, Hans-Jürgen Lühr. „Die jungen Leute fahren nach Niedersachsen und bis nach Hamburg“, ärgert er sich.
„Aber was sollten sie auch sonst tun, wenn es hier keine Arbeit gibt? Als Ansiedlungsfaktor gehen uns die hochqualifizierten Leute jedenfalls verloren.“ Es sei nur eine Frage der Zeit, meint Lühr, bis sie ganz aus Dömitz wegziehen. Die Einwohnerzahl – im Moment 3.200 – sinkt stetig. „Insgesamt“, Hans-Jürgen Lühr wägt die Worte sorgsam ab, „sehe ich die Brücke aber doch als Positivum.“ Schließlich seien die 3,6 Hektar erschlossenes Gewerbegebiet restlos ausverkauft. An wen, verrät er nicht.
Über den Niedergang des VEB- Bauelementewerkes, einst größter Betrieb vor Ort, schimpft Lühr noch heute. Er hat selbst zwanzig Jahre im Werk gearbeitet. Durch sein Engagement in der örtlichen Bürgerinitiative gegen die Grenzanlagen und am Runden Tisch ist er ins Rathaus geschlittert. „Die Ostmärkte waren weg“, resümiert er, was ohnehin jeder weiß. „Und dann“, schüttelt Lühr den Kopf, „wollten die Gewerkschaften auch noch Lohnerhöhungen. Die haben bei null Stunden Kurzarbeit damals mehr verdient als ich hier! Das Ende hab' ich doch kommen sehen.“ Die Falten in seinem schmalen Gesicht scheinen jetzt noch tiefer zu werden.
Aufgeregt wirft er beide Arme in die Luft, schüttelt immer noch den Kopf und schimpft im besten mecklenburgischen Dialekt. Auf die Gewerkschaften und selbstverständlich auch auf die Treuhand. Sie habe den Betrieb zu schnell fallenlassen, meint Lühr. „Aber was soll's, ne?“ Wenigstens der Tourismus laufe gut, zumindest der habe von der Brücke profitiert. Schon im ersten Halbjahr 93 kamen so viele wie im ganzen vergangenen Jahr, vermeldet Lühr. Die Autos mit Hamburger und Lüneburger Nummernschildern, die zuhauf in der Stadt stehen, sind der beste Beweis.
Allerdings würde sich kaum ein Tourist nach Dömitz verirren, gäbe es nicht die im 16. Jahrhundert erbaute Festung. Fünfeckig erheben sich mächtige Backsteinmauern am Nordostufer der Elbe. Wallenstein und Lützow lagerten hier, Fritz Reuter saß einen Teil seiner Haft in Dömitz ab. An den Wochenenden tummeln sich vor allem Pensionäre auf dem historischen Terrain. Die vielen verlorengegangenen Arbeitsplätze können die Touristen bei weitem nicht ersetzen.
Im Gegensatz zur Festung Dömitz sieht das kleine Städtchen eher schäbig aus. Verschlissene Fachwerkhäuser, Backsteinbauten und lieblos grau verputzte Eigenheime drängen sich an den schmalen Straßen. Der alte Teerbelag ist überall mit Pflastersteinen geflickt. Der Verkehr windet sich in Einbahnstraßen durch den Ort. Einige wenige Läden – Residenzen von Versicherungen und Versandhausfilialen – sind schon saniert, bringen einen Hauch von Aufschwung nach Dömitz. Das dreistöckige Rathaus am Marktplatz erstrahlt ebenfalls in neuem Glanz, die Städtebauförderung hat's mit massiven Subventionen möglich gemacht. Die Fachwerkbalken dunkelbraun getüncht; auf den eigentlich glatten Putz sind tiefrote Ziegel und leuchtendweiße Fugen geschminkt. Die Uhr am hohen Giebel ist fünf Minuten vor drei stehengeblieben.
Mehr noch als die strahlenden Fassaden fallen leere Schaufenster auf. Zwanzig Jahre Sperrgebiet und das Sterben von Konsum und HO haben überall im Ort Spuren hinterlassen. Das Kaufhaus hat seine besten Zeiten weit hinter sich. Die obere Etage steht leer, im Erdgeschoß werden in einer Ecke Schuhe angeboten. Die Verkäuferin lehnt im hellblauen Dederonkittel am Ladentisch und wartet. Auch bei den städtischen Lichtspielen ist es schon lange dunkel, die Fassadenkacheln waren irgendwann einmal gelb. Aus dem Schaukasten grüßen die zwei vom „Original Naabtalduo“ und laden auf die Festung zum Konzert.
Gleich um die Ecke, am Slüterplatz, der früher Ernst- Thälmann-Platz hieß, sitzt die Arbeitsloseninitiative von Dömitz. Drei Zimmer im zweiten Stock und vier ABM-Stellen, die im Juli auslaufen. Eine handbemalte Pappe versichert: „Die Gespräche in diesen Räumen unterliegen der Schweigepflicht.“ Wer will, kriegt für fünfzehn Pfennige eine heiße Brühe und eine Bockwurst für einszwanzig. Im Moment will keiner.
„Imbiß für Arbeitslose zum Selbstkostenpreis“, erklärt Christel Schneider. Sie ist 54 und eine der ABM-Kräfte. Bis zum 30. Juni 1991, das Datum weiß sie, ohne nachzudenken, hat Christel Schneider im Bauelementewerk als Wirtschaftskauffrau gearbeitet. Jetzt berät sie Arbeitslose bei Behördenärger und anderen Problemen. Wenn sie kommen.
„Für Frauen sieht es in Dömitz ganz schlecht aus“, sagt sie und erklärt tapfer, daß sie selbst der beste Beweis dafür ist. „Man findet ja nicht mal eine Stelle zum Saubermachen.“ Wenn die ABM ausgelaufen ist, bleibt ihr nur das Warten auf die Rente.
Nach dem Nutzen der Brücke gefragt, muß Christel Schneider erst mal nachdenken und sagt dann betont ernst: „Die Einheit habe ich eigentlich erst durch die neue Brücke erlebt. Vorher waren wir ja am Ende der Welt.“ Doch Arbeit kriege sie dadurch noch lange nicht, fügt sie hinzu. Um ihre Verbitterung zu überspielen, lacht sie kurz auf: „Aber nach Dannenberg in den Aldi können wir jetzt fahren, da sparen wir ein paar Mark.“
In Dömitz kämpfen die Geschäfte derweil mit der Pleite.
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