: „Mein Bruder hat gewonnen“
Das innerafrikanische Duell im 5.000-m-Rennen / Olympiasieger Dieter Baumann vor dem Fernseher und auf dem Fahrrad ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim
Dieter Baumann saß am Montag abend vor der Glotze. Live wollte sich der Olympiasieger über 5.000 Meter das WM-Rennen über „seine“ Strecke nicht antun: „Sonst hätte ich einen Herzkasper bekommen.“ 14:45 Minuten hat der Mann aus Blaustein am Blautopf gerade noch drauf. Schmerzhaft für die Sportlerseele, aber alles andere als blauäugig war daher sein früher WM-Verzicht. Eine dubiose Verletzung im Sprunggelenk legt den 28jährigen seit Anfang des Jahres lahm. Jetzt sattelt er notgedrungen um, schwingt sich, zumindest zu Trainingszwecken und zur Schonung des lädierten Fußes, auf den Drahtesel. In der Nähe von Ulm ward er bei einem C-Klasse- Rennen über 60 km gesichtet.
Was der Schwabe, der bei seinem katalanischen Goldlauf das entscheidende Loch im afrikanischen Gewühl entdeckt hatte, bei seinem Asphalt-Ritt gelernt hat? Taktik. Die entscheidet nämlich nicht nur beim Rundenlauf im Stadionoval, sondern auch bei den Pedaleuren. Was dem gewieften Läufer Baumann nie passieren würde, geschah dem Radler: er hatte sich zur Führungsarbeit verleiten lassen, mit der Folge, daß er kurz vor dem Ziel nach hinten durchgereicht wurde.
Zurück ins Gottlieb-Daimler- Stadion, ins Rennen ohne den „weißen Kenianer“ Dieter Baumann. Im 15er Feld gehen nur vier Europäer an den Start – ohne den Hauch einer Chance. Was nichts Neues mehr ist: Läufer aus Kenia, Marokko, Algerien, Nigeria, Äthiopien zeigen europäischen und amerikanischen Athleten die Fersen. 19 Medaillen gingen bei den Olympischen Spielen in Barcelona an die afrikanischen Leichtathleten.
Kipchoge Keino hat Kenia als erster auf die Landkarte des Sports gesetzt: 1968 in Mexiko, als er den Amerikaner Jim Ryun im 1.500-m- Rennen in Weltrekordzeit schlug. Heute ist der Pionier ein Volksheld in der ostafrikanischen Republik. Kinder, die gut laufen können, werden seit Keino „Kipchoge“ gerufen. Und es gibt viele im Hochland, die das Laufen im Blut haben. Wissenschaftler, welche die kenianische Läuferlunge durchleuchteten auf der Suche nach ihrem Geheimnis, kamen zur Erkenntnis, daß die Stärke der jungen Kenianer auch in ihrer Armut liegt. Es gibt kaum Busse, keine Züge. Jungs und Mädchen rasen im Laufschritt in die Schule. In Stuttgart repräsentiert „Kipchoge“ – was soviel wie „bei dem Krämerladen geboren“ heißt – sein Land als hoher Sportfunktionär.
In Stuttgart nahm das 5.000-m- Rennen ein überraschendes Ende. Dieter Baumann hatte ein Duell Khalid Skah gegen Paul Bitok, Marokko gegen Kenia, prophezeit. Und die innerafrikanische sportliche Auseinandersetzung als Konflikt mit politisch-historischer und ethnischer Tragweite erklärt. Besonders unbeliebt seien die Marokkaner, die „Herrenmenschen Afrikas“, aufgrund ihrer geschichtlichen Rolle als Sklavenhändler für Amerika. Noch unbeliebter hat sich Skah bei den Hochlandbewohnern letztes Jahr in Barcelona gemacht. Als er dem Kenianer Richard Chelimo im 10.000-m-Rennen mit umstrittener „Bruderhilfe“ seines Landsmannes Hammou Boutayeb die Goldmedaille klaute. So stand die Taktik bereits vor dem Startschuß fest: Die drei Kenianer werden versuchen, den spurtstarken Khalid Skah, zu zermürben. 12,5 Runden im Oval, sind eben nicht 12,5 Runden im selben Schritt. Da wird taktiert, werden Fronten aufgebaut, bilden sich Allianzen.
Alles für den Sieger, das „Gesetz der Savanne“, diese „archaische Philosophie der alten Massai“ laufe, so hat es der Journalist Robert Hartmann einmal geschrieben, in den Köpfen der vierten Läufergeneration immer noch mit. Die Ostafrikaner verstehen sich ohne große Worte. So bolzte Michael Chesire Tempo, legte zwei, drei Runden im 59er und 60er Schnitt vor, wohl wissend, daß er sich irgendwann wie Dieter Baumann auf dem Drahtesel „durchreichen“ lassen muß. Chesire wurde Letzter. Aber: „Hauptsache, ein Kenianer hat gewonnen“, lachte Kipchoge verschmitzt.
Ismael Kirui heißt der Weltmeister. Er wird offiziell als 18jähriger geführt wird, seine Zeit (13:02,75 Minuten) wäre somit Junioren- Weltrekord. De facto, behauptet Robert Hartmann, werde kräftig in den Geburtsurkunden geschummelt. Vier Jährchen älter ist der 160 Zentimeter kleine und 54 Kilo leichte Läuferfloh. Drei Äthiopier zwängten sich noch vor den nicht gerade geliebten Khalid Skah. Gerächt hat Ismael Kirui seinen leiblichen, um ein Jahr älteren Bruder Richard Chelimo für die Schmach von Barcelona. Und Paul Bitok, der auf Rang acht (ab)geschlagene Favorit? Er jubelte wie ein Weltmeister: „Mein Bruder hat gewonnen.“
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