„Die Gesetze der Straße sind furchtbar“

In Istanbul leben 15.000 Kinder und Jugendliche auf der Straße / Im Beyoglu-Viertel treffen sich die jungen Schnüffler, die von Betteln und Prostitution leben / Männergewalt gegen Kinder  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Das Elend hat sich um Mitternacht in einem Hauseingang verkrochen. In zerfetzten Kleidern liegen dort drei Kinder im Vollrausch. Immer wieder greifen sie zu der Flasche mit dem Lackverdünner. Ein Tuch wird befeuchtet, um daran zu schnüffeln. Plötzlich richtet sich die Kindergruppe auf. Ein Mann im blauen Anzug hat sich vor ihnen aufgebäumt und spielt unablässig mit einem Rosenkranz. Verächtlich blickt der Herr mit dem Schnauzer und dem sauberen weißen Hemd hinunter. Der Mann und die Jungen kennen sich. Ein Gespräch des Herrn mit den Sklaven. Die letzten Wortfetzen kann ich von dem Café aus, das durch Blumen und Sträucher vom Hauseingang abgegrenzt ist, verstehen: „Metin, in 10 Minuten bist du im Park. Mach deinen Arsch sauber, bevor du kommst.“ Der Mann und Metin verschwinden. In wenigen Minuten wird ein 15jähriger Jugendlicher vergewaltigt werden.

In der Gasse, die nach dem islamischen Geistlichen Imam Adnan benannt ist, kümmert das niemand. Um Mitternacht gehört das Istanbuler Viertel Beyoglu im Zentrum der Stadt der Männergewalt. Nur zehn Meter weiter werden in obskuren Nightclubs Frauenkörper verkauft. „Hereinspaziert, Rumäninnen und Russinnen!“ lockt einer der Bodyguards potentielle Gäste.

Nur wenige Tage später treffe ich Metin tagsüber mit drei weiteren Kindern: Ilhan, Hilmi und Cengiz. Die vier sind bei der Arbeit, Betteln in der Fußgängerzone „Istiklal“. Geld anschaffen für den Verdünner und den Klebstoff. Ab und zu ausruhen. Eine weggeworfene Eisschale, die auf der Straße liegt, auslöffeln. Ich lade sie zum Tee im Café ein. Die Runde ist glücklich. Gesellschaftliche Anerkennung wird gezollt.

Wir paffen Zigaretten zum Tee und reden. Tinerci cocuklar, „Verdünner-Kinder“ – diesen Namen haben türkische Medien den obdachlosen, süchtigen Kindern gegeben. Die Kinder und Jugendlichen gehören zum festen Straßenbild Beyoglus. Verdünner und Klebstoffe sind die billigsten Drogen. Die Klebstoffe „Uhu“ oder „Bally“ werden in Plastiktüten gespritzt und anschließend inhaliert. Die Auswirkungen sind verheerend. Nicht nur bleibende gesundheitliche Schäden sind die Folge, sondern in mehreren Fällen auch der Tod. Einige Kinder nehmen sich im Rausch das Leben.

Unbeschwert redet Metin über seine Familienverhältnisse, über seine Geschwister, seinen Vater, der ein Alkoholiker ist und ihn im Suff geschlagen hat. Doch über den Mann mit dem blauen Anzug schweigt er sich aus. Das wäre Bespitzeln. „Auf Bespitzeln steht Tod“ – so lautet das Gesetz der Straße.

Seit vier Jahren schon lebt Metin auf der Straße. Vor drei Jahren hat er sich die Narbe im Gesicht zugezogen, als er sich im Rausch in die Fensterscheiben eines Geschäftes warf. Metin beherrscht das Handwerk der Straße. Er ist so etwas wie der Bandenchef der Gruppe. Er weiß, wie man in modernen Zeiten bettelt. Nicht das klassische Betteln in islamischen Ländern, wo der Bettler sich beim Spender mit einem „Gott behüte dich“ bedankt. Sondern aggressiv die Menschen anfahren. Um Metin loszuwerden, müssen sie etwas Geld geben. Kleinere Diebstähle, Prügel auf Polizeiwachen begleiten Metins Lebensweg.

Der gleichaltrige Ilhan ist Kurde. Aus seinem Geburtsort Diyaden zog die Familie mit den sieben Kindern vor acht Jahren nach Istanbul. Ilhan hat als Schuhputzer für die Familie Geld verdient. Doch zu Hause bezog er stets Prügel vom Vater. „Dort hältst du es nicht aus. Wenn ich eine Zigarette anzünde, schlägt mein Vater auf mich ein“, sagt Ilhan.

Überall auf seiner Hose und der lumpigen lila Jacke sind Flecken. Reste von Klebstoff. Mit dem Verdünner und dem Klebstoff hat Ilhan vor drei Jahren angefangen. Die anderen Kinder haben es ihm beigebracht. Einmal haben sie die Fensterscheiben eines Geschäftes eingeschlagen und Schokolade geklaut. Ilhan fiel in die Hände des ehemaligen Chefs der Polizeiwache von Beyoglu. Hortum Süleyman, „Schlauch Süleyman“, war berüchtigt für Folter und Mißhandlungen von Transvestiten und Transsexuellen. Auch die Kinder fielen in seine Hände. Zwei Tage lang wurden sie mit der Bastonade traktiert. „Er ist wie Saddam Hussein“, erzählt Ilhan vom Ex- Chef des Polizeiquartiers. „Heutzutage sind die Polizisten gut. Sie prügeln nur auf uns ein, falls wir den Leuten zu sehr auf den Wecker fallen.“

Er hat sich auch Gedanken über Frauen gemacht: „Hier in Istanbul tragen Frauen T-Shirts und kurze Hosen. Das wäre bei uns in Diyaden nicht möglich. Dort sind die Frauen verschleiert, und eine unehrenhafte Frau wird getötet.“ Vor ein paar Monaten hat er versucht, wieder nach Hause zurückzukehren. Sein Verdünner-Freund Hilmi hat ihn begleitet. Für Hilmi, der nie eine Familie kannte, war es ein großes Erlebnis: „Der hat mich stehenlassen und mit seiner Großmutter kurdisch geredet. ,Piri, piri‘, hat er gesagt. Das soll Großmutter heißen. Zum Essen gab es Huhn, Kuchen und Coca-Cola.“ Doch nach wenigen Tagen war Ilhan wieder auf der Straße.

Der vierte in der Runde, Cengiz, kann nicht sprechen. Auf seinem gesamten Oberkörper sind Brandwunden zu sehen. Vor Jahren gab es einmal einen Streit. Andere Kinder verweigerten ihm den Verdünner. Schließlich wurde der Verdünner über den Jungen gekippt und angezündet. Cengiz kam mit dem Leben davon. Er ist geistig behindert. Auch er schnüffelt.

Einmal entreißen die Jungen mir den Notizblock. Alle schreiben ihren Vornamen und Nachnamen auf das Papier. Auch Cengiz greift zum Kugelschreiber. Doch er bringt nur Gekrakel auf das Blatt.

Plötzlich springen die Kinder auf: „Bruder Yusuf ist da! Bruder Yusuf ist da!“ Der 31jährige Yusuf Ahmet Kulca ist Vorsitzender des „Vereins zum Schutz obdachloser Kinder und Jugendlicher“. Der 85 Mitglieder zählende Verein versucht, die abhängigen Kinder zu rehabilitieren und von der Straße zu holen. In der Imam-Adnan- Gasse unterhält er ein kleines Büro in einem Dachgeschoß. Außerdem hat der Verein zwei Wohnungen angemietet, wo insgesamt 25 Kinder und Jugendliche Unterschlupf gefunden haben.

„Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Kulca. „Allein in Istanbul gibt es 15.000 obdachlose Kinder.“ Die staatlichen Heime nehmen süchtige Kinder nicht auf. Erst nach medizinischer Behandlung und Rehabilitation könnten die Kinder aufgenommen werden, da ansonsten die Gefahr drohe, daß sie andere Kinder zum Schnüffeln verführen. Doch für medizinische Behandlung und Rehabilitation der Verdünner-Kinder existiert kein einziges öffentliches Programm. „Die Kinder werden in die Kriminalität und den Tod getrieben“, sagt Kulca.

Sein Verein finanziert sich allein durch Spenden. Bislang hat der türkische Staat den Verein mit keinem einzigen Groschen unterstützt. Monatlich gehen etwa 15 Millionen Türkische Lira, umgerechnet etwa 2.000 Mark, an Spenden ein. „Allein für die Kinder, die in unsere Heime wollen, bräuchten wir das Fünffache der Summe“, berichtet Kulca. Er bemüht sich um Unterstützung von Projekten durch die Bezirksverwaltung der Stadt und der Yilmaz-Güney-Stiftung. Ein Heim und ein Gesundheitszentrum sind im Gespräch.

Die Verdünner-Kinder lieben und verfluchen Yusuf Kulca. Er ist es, der ihnen Essen gibt und sie umarmt, er ist es, der ihnen die Verdünnerflaschen entreißt. Daß er Vater- und Mutterfigur in einem ist, kommt nicht von ungefähr. Kulca hat selbst auf der Straße gelebt. Er wurde als Kind in ein staatliches Heim eingewiesen. Mit 18 wurde er rausgeworfen. Jahrelang hat er als Obdachloser in den Straßen Istanbuls gelebt, sich mit Gelegenheitsjobs und Diebstahl durchgeschlagen. Seine Militärzeit empfand er als Befreiung. „Du mußt dort keine Miete zahlen, und du kriegst sogar etwas zu essen.“ Heute hat Kulca einen Beruf und arbeitet als Journalist in einem Boulevard-Magazin. Die alten Tage will er nicht vergessen: „Ich zittere immer noch, wenn ich an die Straße denke. Du hast kein Zuhause. Du hast nichts. Und die Gesetze der Straße sind furchtbar.“

In gewissem Sinn ist Kulca der Straße treu geblieben. Er lacht, als ich frage, ob er verheiratet sei. „Wie denn? Die Kinder sind meine Familie.“ Jeden Tag nach Dienstschluß in der Redaktion zieht er bis spät in die Nacht durch Istanbuler Gassen auf der Suche nach Kindern und auf Jagd nach Männern, die die Kinder sexuell mißbrauchen. „Zuerst sind die Kinder immer mißtrauisch. Sie denken, ich sei ein Vergewaltiger oder ein Zivilpolizist. Du mußt das Vertrauen der Kinder gewinnen.“

Zusammen mit Kulca fahren wir ins Yenikapi-Viertel. Am Ausgang der Belüftungsanlagen einer Unterführung ist ein Sammelpunkt der Verdünner-Kinder. Kulca will den 15jährigen Gökhan treffen. Gökhan ist vor wenigen Tage vergewaltigt worden und will helfen, den Täter zu stellen. „Er kann nach der Vergewaltigung seine Exkremente nicht mehr kontrollieren und macht sich in die Hose“, sagt Kulca.

Wir treffen Gökhan unweit der Unterführung. Sobald er spricht, steigt einem eine Verdünnerfahne in die Nase. Zwei bis drei Flaschen leert Gökhan täglich. Er hat Angst, will nicht länger helfen, den Täter ausfindig zu machen. „Rambo hat große Messer. Er wird mich umbringen. Auf Bespitzeln steht Tod.“ Rambo ist der Spitzname eines etwa dreißigjährigen Obdachlosen, der die Kinder terrorisiert. Zum drittenmal im Laufe von anderthalb Jahren ist Gökhan von Rambo vergewaltigt worden. „Es war vier Uhr morgens. Er hat das Messer gezückt. Auf einem freien Gelände hat er die Sache erledigt.“ Alle Kinder kennen Rambo, dessen wirklicher Name Ayhan ist. Alle wissen, was mit „die Sache erledigen“ gemeint ist.

Ein Jugendlicher mit dem Spitznamen „Skorpion“ schlägt vor, Rambo mit einem Messer umzubringen. Kulca versucht, ihn davon abzubringen. „Ihr kommt in den Knast. Wir werden ihn auf frischer Tat ertappen, verprügeln und der Polzei ausliefern.“ Dabei ist ihm durchaus bewußt, wie fragwürdig seine Aussagen sind, denn die Polizei hält sich am liebsten raus.

Bis in die frühen Morgenstunden lauern wir auf Rambo. Vergeblich. Wir plaudern mit Gökhan. Auch er war am Schokoladenklau beteiligt. Sein Großvater hat einen sonderbaren Nachnamen angenommen, als der Staat vor einem halben Jahrzehnt den Türken vorschrieb, sich einen solchen zuzulegen. Gökhans Nachname lautet Yurdunmali, zu deutsch: „Ware des Vaterlandes“.