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Abweichung wird mit dem Tode bestraft

■ Archaische Dorfjustiz in Indien: Ermordung eines jungen Paares

Neu-Delhi (taz) – Die Entfernung zur indischen Hauptstadt beträgt keine hundert Kilometer, doch das kleine Dorf Khandrawali in der weiten Gangesebene scheint von der Nähe einer modernen Großstadt nur wenig berührt zu sein. Zumindest hat die fortschrittliche Gesetzgebung, die das Parlament in Neu-Delhi dem Land regelmäßig verschreibt, das Rechtsempfinden der Dorfbewohner bisher kaum beeinflußt.

Als sich Satish und Sarita, beide knapp über 20, vor einem halben Jahr ineinander verliebten, sündigten sie gegen eine Regel, welche in Khandrawali zuoberst auf der Skala sozialer Werte steht: da beide blutsverwandt waren, hatten sie die „Maryada“, das soziale Ansehen verletzt. Sie wußten offenbar um ihre Schandtat und rissen aus. In Delhi ließen sie sich auf dem Standesamt rechtmäßig trauen – der dritte Verwandtschaftsgrad läßt auch gemäß indischer Gesetzgebung eine Heirat zu. Es mag sein, daß die staatliche Sanktion der Ehe die jungen Leute in der Illusion wiegte, daß sie nichts zu befürchten hatten. Statt sich, wie andere Liebespaare vor ihnen, in Khandrawali nicht mehr blicken zu lassen, ließen sie sich dazu überreden, ins Dorf zurückzugehen. Saritas Onkel Ram Dhan, der das Mädchen nach dem Tod der Eltern aufgezogen hatte, hatte die beiden aufgespürt und ihnen nahegelegt, vor dem „Panchayat“, dem Ältestenrat, die Angelegenheit zu regeln. Kaum waren sie am vorletzten Samstag aus dem Bus gestiegen, wurden sie zum Dorfplatz geladen, wo die „Panchas“ versammelt waren.

Doch diese, umringt von der gesamten Bevölkerung, kamen gar nicht dazu, das Ehepaar zu vernehmen. Laut Aussagen von Augenzeugen ergriff Ram Dhan eine bereitstehende Axt und hackte zuerst Satish, dann seiner Braut mit gezielten Hieben den Kopf ab. Während Satish sich noch zu wehren versucht hatte, stand Sarita offenbar regungslos da und wartete auf die Hiebe ihres Onkels, die rote „Sindhur“-Farbe in ihrem Scheitel, allen Umstehenden ebenso sichtbar wie die Armringe aus Glas – die Attribute einer jungvermählten Frau. Auch wenn es die Handlung eines Einzelnen war, wurde sie offenbar von der Dorfgemeinschaft gebilligt. Ruhig zerstreute sich diese nach der Tat und ließ die Toten in ihrem Blut liegen. Ram Dhan verschwand, aber niemand konnte der Polizei Hinweise über dessen Verbleib geben. Und niemand fand sich bereit, einen Traktor zum Abtransport der Leichen zur Verfügung zu stellen.

Als wenige Tage darauf Journalisten aus Delhi auftauchten und die Leute ausfragten, waren diese erstaunt über das große Interesse aus der Großstadt. Selbst Satishs Vater saß zu Hause und gab, während er ruhig an seiner Wasserpfeife saugte, sachliche Auskunft. Ein alter Bauer klärte die Journalisten auf: „Vielleicht war es falsch, sie zu töten. Aber schließlich haben die beiden ein gräßliches Verbrechen begangen, und die Bevölkerung fand, daß sie dafür bestraft werden mußten.“ Khandrawali ist nicht das Dorf einer stolzen Bauernkaste, sondern wird von „Harijans“, den Unberührbaren und Ausgestoßenen des indischen Kastensystems, bewohnt. Je mehr diese von der Gesellschaft als ehrlos verfemt werden, desto rigider halten sie, so scheint es, an einem Ehrenkodex fest, der jede Abweichung mit dem Tod bestraft. Selbst Simri, Saritas Grußmutter, rechtfertigt damit den gewalttätigen Tod ihrer Enkelin: „Die Armen“, sagte sie, „haben nichts außer ihrer Würde.“ Bernard Imhasly

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