: Von Pferden und Menschen
Zur Strukturkrise des Pferderennsports: Emotionen ersetzen planvolles Handeln / Viele Besucher, aber nur geringe Wettumsätze in Hoppegarten / Erhalt der Anlage ist gefährdet / Probleme auch in Karlshorst und Mariendorf ■ Von Harry Nutt
„Mann, ick bin ja heute richtig verseucht, spiele alles von der 5 und treff nichts, weil die 3 reinläuft. Die 5 auf Sieg, und du wärst aussm Brand jewesen. Jetzt liechste schon 150 hinten“, brabbelt sich Dieter in den Bart und kramt aus seiner Jackentasche einen Zettel für das nächste Rennen hervor. „Irgendwann muß ick doch treffen. Spartakus II, muß der nich heute kantern?“ Spartakus, denkt Dieter, an dem hab' ich mich mal dumm und dämlich verdient, als er noch für Ostkohle lief. Heute kriegt er kaum noch eine Mark ab, der alte Junge.
Kurz nach der Wende ist Dieter arbeitlos geworden. „Ohne Computerkenne biste als Schriftsetzer uffjeschmissen, aber was soll's, die paar Mark zum Wetten ha'ick immer über. Verhungern tuste so schnell ooch nich.“ Zwei-, dreimal pro Woche geht Dieter zum Pferderennen, Karlshorst, Mariendorf, im Sommer manchmal auch nach Hoppegarten. „Aber bei de Galopper isses eher schwerer, mußte dich auskennen, mitte Jewichtsklassen und so.“
„Vulcano Flash, 4j. qualifiziert, günstig abzugeben“, so oder ähnlich lautete die Anzeige in der Berliner Fachzeitung für Trabrennsport, auf die die Geschwister Wolfgang und Ranghild aufmerksam wurden. Als er dann vor seiner Box vorgeführt wurde, waren sie schon in ihn vernarrt, und für etwas mehr als 2.000 DM wechselte der Wallach in ihren Besitz. Inzwischen ist Vulcano Flash zehn Jahre alt und hat mehr als 100.000 DM an Gewinnen eingelaufen. Reich ist das Geschwisterpaar mit ihrem „Vulce“ nicht geworden, aber der anfangs als schwierig geltende Wallach hat seinen Unterhalt verdient, Jahr für Jahr. Ranghild und Wolfgang wissen, daß ihr Pferdeglück auch anders hätte ausgehen können, nicht jedes Rennpferd läuft so treu seine Form aus. Oft müssen die beanspruchten Vierbeiner ihre Karriere vorzeitig beenden. Vulcano Flash aber hatte bald Familienanschluß und bedankte sich für die fürsorgliche Pflege mit überdurchschnittlichen Leistungen. „Wenn er keine Lust mehr hat, braucht er keine Rennen mehr laufen“, sagen die Geschwister unisono, als verstehen sie ihn wortlos. Aber noch läuft er Rennen, circa 30 pro Jahr, von Gnadenbrot war nie die Rede, das bekomme er, so oder so.
Leute wie Dieter, Ranghild und Wolfgang hätte man auch vor 100 Jahren schon auf den Berliner Rennbahnen antreffen können. Das Image vom elitären Sport traf im Grunde nie richtig zu, zumindest nicht bei den Trabern, wo in den Anfangstagen vornehmlich Kleingewerbetreibende, Metzger, Obst- und Gemüsehändler ihre Wagenpferde gegeneinander antreten ließen. Nicht auszuschließen, daß auch Wetter Dieter einmal einen Anteil von einem Rennpferd kauft, insgeheim ist vielleicht das der Traum jedes Pferdewetters.
Berlin ist eine traditionsbeladene Rennbahnstadt. Die ersten offiziellen Rennen fanden auf dem Exerzierplatz des Tempelhofer Feldes Mitte des 18. Jahrhunderts statt, 1868 öffnete die Galopprennbahn in Hoppegarten ihre Pforten, später entstanden Galopprennbahnen in Strausberg und im Grunewald. In Lankwitz-Lichterfelde und Karlshorst wurden Hindernisrennen gelaufen, die Traber begannen in Weißensee und hatten später ihre Rennplätze in Westend, Ruhleben und Mariendorf, zum Teil gleichzeitig.
Die Historie der Rennplätze ist ein noch ungeschriebenes Buch der Berliner Architekturgeschichte. Drum herum entwickelte sich rasch ein komplexes System aus Pferdezucht und -rennen, das nie exklusiv denen vorbehalten war, die es sich leisten konnten. Mit Kremsern und Trambahnen, S-Bahn und Bus strömten an den großen Renntagen die Zuschauermassen heran, zahlten ein paar Groschen Entree für den Stallplatz und wetteten mit kleinen Beträgen untereinander. Pferderennen waren stets ein fester Bestandteil der preußischen Festkultur. Zahlreiche Buchmacherbüros hatten ein börsenartiges System über die Vorhersage auf das Ereignis Pferderennen entstehen lassen. Irgendein Rennen fand immer statt, und verwettet wurden Millionenbeträge, in Inflationszeiten entsprechend mehr.
Der Schein der großen Zahl trügt
Mit einem Gesamtumsatz von mehr als 70 Millionen DM für 1992 sind die drei verbliebenen Rennbahnen Mariendorf, Karlshorst und Hoppegarten nach wie vor Großunternehmen der Berliner Sport- und Freizeitindustrie. Der Schein der großen Zahl jedoch trügt. Zwar lockt Hoppegarten in den Sommermonaten 20.000 und mehr Zuschauer auf die Bahn im Grünen, aber die Wettumsätze reichen kaum aus, um die nötigen Investitionen zum Erhalt der Anlage zu finanzieren. Europas „schönste Galopprennbahn“ ist zunächst einmal eine Immobilie mit hohem Spekulationswert, aber unter der schönen Fassade bröckelt der Putz, im Wortsinn und metaphorisch. Mit der Wende kam für die Osttrainer auch der Ausverkauf der volkseigenen Ställe, statt Siegerparade folgte für viele Hoppegartener Pferdeleute der Weg zum Arbeitsamt.
Der Pferdebestand wurde drastisch reduziert und reicht heute kaum mehr aus, die 18 Rennveranstaltungen in den Sommermonaten mit Startern zu bestücken. Um das Gelände streiten sich derweil das Land Brandenburg und der Alteigentümer, der Union Klub. Eine Investorengruppe um Springreiter Paul Schockemöhle, die ebenfalls in großem Stil in Hoppegarten aktiv werden wollte, ist aus dem Rennen um Bahn und Boden vorzeitig ausgeschieden.
Bei den Trabern, die mit knapp 200 Renntagen ganzjährig veranstalten, sieht es nicht besser aus. Noch immer ist die Zukunft der einzigen Trabrennbahn der ehemaligen DDR, Karlshorst, ungewiß. Erst im Juni verlängerte sich der Pachtvertrag zwischen der Treuhand und dem Trabrennverein Mariendorf um ein Jahr, aber zu langfristigen Investitionen ist der Südberliner Verein nicht in der Lage. Die Tribünen und Stallanlagen auf dem Karlshorster Gelände zerfallen, und bei der Treuhand denkt man darüber nach, die 1945 in eine Traberbahn umfunktionierte einstige Hindernisbahn an private Bewerber zu veräußern. Aber auch ohne diese ungewissen Besitzverhältnisse steckt der Berliner Pferderennsport in einer tiefen Personal- und Strukturkrise. Dreimal hat man in Mariendorf seit 1990 den Vorstand gewechselt, ebensooft rotierten die Verantwortlichen auf dem Sessel des Geschäftsführers. Ein Mariendorfer Ex-Vorsitzender hat zwischenzeitlich auf einem Vorstandsstuhl in Hoppegarten Platz genommen, kuriose Wechselspiele mit belanglosem Ausgang.
Modernes Management indes scheint in den gemeinnützigen Vereinen ein Fremdwort. Man weiß gar nicht, wen man ansprechen soll, meint ein investitionswilliger Sponsor resigniert. „Wenn man in Mariendorf anruft, landet man zunächst beim unwissenden Pförtner.“ Ob er in den höheren Etagen besser bedient würde, bezweifelt allerdings der langjährige Mariendorfer Vorsitzende Hans- Walter von Kolpinski. „Ich bin immer wieder darüber verwundert, mit wieviel fachlicher Inkompetenz der Verein derzeit geführt wird.“ Seit 1989 gingen die Wettumsätze in Mariendorf um knapp sieben Millionen Mark zurück. Leidtragende sind vor allem die Pferdebesitzer, die ihre Vierbeiner für immer geringere Rennpreise gegeneinander antreten lassen müssen.
Viele haben daraus Konsequenzen gezogen und ihre Pferde zu westdeutschen Trainern gegeben, weil auswärts einfach mehr zu verdienen ist. Viele der über 60 Berliner Trainer leben am Rande des Existenzminimums, der sportliche Wettbewerb wird von drei Großtrainern mit 80 und mehr Pferden beherrscht. War das Unterhalten eines Rennstalls im Erfolgsfall einst eine lukrative Sache, so kommen die Pferdefreunde selbst bei Siegen ihrer stolzen Tiere nicht auf ihre Kosten. Die Traber sind in einen Teufelskreis von sinkenden Umsätzen und Rennpreisen gelaufen, der irgendwann ganz zum Stillstand kommen könnte. Der Unterhalt eines Rennpferds kostet im Jahr etwa 15.000 DM, die Durchschnittsgewinne sind in den letzten Jahren jedoch auf weit unter die Hälfte gesunken. In Sarkasmus flüchtet sich angesichts der Entwicklung auch der seit mehr als zehn Jahren in Berlin aktive schwedische Trainer Rolf Hafvenström: „Der Umsatz auf beiden Berliner Trabrennbahnen ist ausgezeichnet im Verhältnis dazu, wie der Verein geführt wird.“
Schuld daran ist für viele die Vereinsstruktur selbst, in der sich nach Feierabend umtriebige Mitglieder um die Belange des Pferdesports kümmern, bisweilen mit handfesten eigenen Interessen. Unternehmensberater Scherff übernahm vor anderthalb Jahren ehrenamtlich die Amtsgeschäfte in Mariendorf, läßt sie sich mittlerweile aber als Interimsgeschäftsführer stattlich bezahlen. Nur kurze Zeit konnten er und seine Kollegen sich in die Ausrede der allgemein schlechten Konjunktur flüchten, mittlerweile ist allen Insidern klar, daß in Mariendorf Hobbyfunktionäre große Politik spielen und zum Zeitvertreib die Existenz von rund 600 Beschäftigten im Berliner Trabrennsport aufs Spiel setzen.
Das Entlassungskarussell auf der Rennbahn haben sie bereits angedreht. Von einem Vereinsmitglied droht dem Rennverein nun eine Schadenersatzklage wegen Vertragsbruchs, ein Rennbahnangestellter hat eine Strafanzeige im Zusammenhang mit der fristlosen Kündigung der Programmzeitung Traber aktuell am Hals. Unter den ca. 70 Mitgliedern ist man völlig zerstritten, und die wenigen Handlungsträger basteln an waghalsigen Überlebenskonzepten. So äußerte unlängst Klaus-Volker Stolle, Rennstallbesitzer, 2. Vorsitzender beim Zweitligisten Tennis Borussia und im Aufsichtsrat des Mariendorfer Vereins, wenn es nach ihm ginge, müsse man Mariendorf abreißen, um aus den Bodenverkäufen das Kapital für eine Investition in Karlshorst zu gewinnen. Übersehen haben dürfte der emsige Sportfunktionär und Hotellier dabei, daß die Mariendorfer Endellsche Tribüne unter Denkmalschutz steht und das Mariendorfer Gelände als ausgewiesene Grünfläche kaum in Bauland umzuwandeln sein wird. Aufwendige Tribünen-Zelt-Konstruktionen für Karlshorst imaginieren derweil TVM-Vorsitzender Scherff und Aufsichtsratsvorsitzender Gerd Petrik, Honorarkonsul von Panama mit Wohnsitz in Florida.
Tatsächlich aber konnte man binnen vier Jahren nichts dagegen tun, daß eine völlig veraltete und umweltbelastende Heizungsanlage in Karlshorst Hunderttausende verschlang. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten feiert jeder so seine Feste, immer in deutlicher Distanz zum wettenden Publikum. Rennbahnleben, das ist nicht zuletzt das Aufeinanderprallen unterschiedlicher menschlicher Interessen zwischen Ruhm, Gewinnstreben und Freizeitvergnügen. Manche fahren einfach nur gern im Kreis, andere glauben ans große Geschäft, wieder andere erkaufen sich hier ihren gesellschaftlichen Rang. Im Rennsport überwogen Emotionen stets planvolles Handeln. „Uff jedes Siegerfoto wollen die mit druff“, meint Wetter Dieter, „wat wir wolln, interessiert die nich.“ Zur Derby-Woche, dem sportlichen und gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres, befand eine Werbeagentur, auf der Trabrennbahn müsse es schicker zugehen, und startete eine Miethut-Aktion, für die schönste Kopfbedeckung stiftete sie einen Preis. Das Ungeschick, meint dazu der Soziologe, entsteht ziemlich genau in dem Augenblick, wenn möglichst einschneidende Maßnahmen dagegen ergriffen werden.
König Kunde, der Wetter, kommt in der Anordnung von vereinsmeiernden Intrigen ohnehin nur selten vor. Von jeder gewetteten Mark verliert er vorab rund 30 Pfennig, die Steuerschraube ist in den letzten Jahren stetig angezogen worden. Von einst 16 2/3 Prozent wurde der Wetter später auch zur Finanzierung einer neuen Tribüne herangezogen, die schon weit vor der Fertigstellung im Jahre 1972 ein Pleiteprojekt war. Später hat man den Wettern den zusätzlichen Obolus nie zurückerstattet. In der Blütezeit des Sports kam auch die Buchmachersteuer dem gemeinnützigen Rennsport zugute, diese hat später der Landeshaushalt eingestrichen, ohne daß sich die Rennsportfunktionäre gegen die erhebliche finanzielle Beschneidung gewehrt hätten. Als vor einiger Zeit Politiker der AL im Haushaltsplan einen Rennbahnzuschuß auf die Streichliste setzen wollten, wußten selbst TVM-Funktionäre nicht, daß es sich hierbei nicht um einen Zuschuß, sondern lediglich um eine Rückvergütung von abgeführten Einnahmen handelte, ohne die der Rennsport nicht leben kann.
Der diskrete Charme des Dilettantismus
Das freilich ist nicht allein das Problem der aktuellen Amtsträger, sondern vielmehr darauf zurückzuführen, daß der Sport nie eine professionelle Funktionärspflege betrieben hat. Die Landespferdezucht, einst ein Wirtschaftszweig von erheblichem Rang, ist nurmehr eine Marginalie im Freizeitsektor. Das Sagen im Verein hat, wer die meisten Stimmen bekommt, dazu reichen bisweilen auch schöne Sonntagsreden. Nach einem Zufallsprinzip wird im Verein auch die Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Seit mehr als zwanzig Jahren beklagt man in Rennbahnkreisen, daß die Presse zuwenig oder keine Notiz vom Pferdesportgeschehen nimmt. Zu einem eigenen Pressesprecher jedoch hat man es bei der Rennbahn in Mariendorf bis heute nicht gebracht.
Ausgestattet mit dem diskreten Charme des Dilettantismus jedoch locken die Berliner Rennbahnen zu ihren Großereignissen die Zuschauer in Scharen an. Fast 30.000 waren es am ersten Augustsonntag zum 98. Deutschen Traber-Derby, bei dem trotz aller Probleme eitel Sonnenschein herrschte. Das Faszinierende am Pferderennsport, das auch durch tumbes Funktionärswesen nicht kleinzukriegen ist, vielleicht drückt es sich in der Geschichte des Siegers aus: Speedy Harry gewann knapp 400.000 DM für seinen Besitzer, einen Pferdetransporteur aus München, der für das Pferd als Jährling kaum mehr als Ranghild und Wolfgang für Vulcano Flash bezahlt hat. Niemand außer ihm wollte das Pferd. Als der mit aufs Bild ging, kamen ihm, meint Dieter, beinahe die Tränen.
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