: Gin aus der Flasche trinken
■ "Die Wirklichkeit des Lebens in Worten"? Ein Band mit Bluesgeschichten
„99 Prozent derjenigen, die Geschichten über den Blues geschrieben haben, haben den Leuten einen Floh ins Ohr gesetzt“, behauptet Willie Dixon in „I am the blues“, einem von zwanzig Beiträgen, mit denen das Buch „Baby please don't go“ versucht, dem Phänomen einer unverwüstlichen Musik zu Leibe zu rücken. Für einen Band mit Bluesgeschichten ist Dixons Aussage nicht unbedingt schmeichelhaft, aber man kann davon ausgehen, daß der 1992 verstorbene Bluesbarde aus Vicksburg/Mississippi die hier versammelten Stories wohl in ihrer Mehrheit nicht zur flohträchtigen Sorte gezählt hätte.
Einige sind tatsächlich voll und ganz dem Thema Blues gewidmet, bei anderen reicht bereits die kurze Erwähnung des Begriffs oder eine winzige Randepisode zur Aufnahme in die Anthologie aus. Anders als beim Jazz sind Geschichten über den Blues dünn gesät.
Dennoch sind dem Herausgeber einige hübsche Sachen in die Hände gefallen. Da ist T.C. Boyle mit seiner eindringlichen Hommage an Robert Johnson, dessen Stimme zu einem „schwirrenden Falsett“ aufsteigt, um dann zu einem „grottenartigen Grollen“ abzusinken, der die Männer zum Johlen bringt und die Frauen verrückt macht. So verrückt, daß ihm eine von ihnen Rattengift ins Essen schüttet und er jämmerlich auf der Bühne verreckt. Da ist Alice Millers Geschichte vom leicht zu identifizierenden weißen Sänger, der mit dem Lied einer schwarzen Musikerin reich, berühmt und fett wird, ohne jemals zu verstehen, was es mit diesem gottverdammten Song eigentlich auf sich hat. Da ist die Geschichte von Big Bill Broonzy, der einmal bei einem Blues-Wettbewerb gegen Memphis Minnie verlor und sich, während die Siegerin begeistert gefeiert wurde, in aller Ruhe mit dem ersten Preis, einer Flasche Whiskey, aus dem Staub machte; derselbe Big Bill Broonzy, der, als er noch Little Bill Broonzy war, mit Sleepy John Estes und Leadbelly als Eisenbahnarbeiter rackerte. Das heißt, Estes und Broonzy rackerten, während Leadbelly („Ich hasse den Kerl, der das Wort Arbeit erfunden hat“), dazu Gitarre spielte und sang. – Da ist ein Auszug aus William Faulkners Sartoris, in dem ein gnadenloser Übersetzer die Schwarzen wie Idioten reden läßt. Da ist die Geschichte vom Juke-Box-Schuppen, wieder von Alice Miller, die die Basis für den einzigen Lichtblick im unsäglichen Spielberg-Film „Die Farbe Lila“ lieferte. Da ist Langston Hughes mit seiner Story von der weißen Lady, die eine schwarze Pianistin protegiert und fassungslos miterleben muß, wie ihr Schützling die Klassik sausen läßt, um für Leute, „die den Gin aus der Flasche trinken“, den Blues zu spielen.
Da ist der fürchterlich geschwätzige [na,na!; d.Red.] Greil Marcus mit seinem Porträt des gescheiterten Elvis-Vorläufers Harmonica Frank. Da ist Elton Glasers nette Geschichte vom weißen Jungen, der sich in das Saxophonspiel eines gewissen „Crookneck“ verliebt und den Besitzer des Blue Cat Club in nicht unerhebliche Schwierigkeiten bringt. Da ist noch einiges mehr, und da ist vor allem Willie Dixon, der endlich das Geheimnis des Blues lüftet und dessen endgültige Definition liefert: „Die Wirklichkeit des Lebens in Worten und Songs, Inspiration, Gefühl und Verständnis“. Matti Lieske
„Baby please don't go“. Bluesgeschichten, Sammlung Luchterhand 1993, 22,80 DM
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