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Jelzins Annäherung an Mitteleuropa

Rußlands Präsident besucht Prag und Bratislava / In zwei Freundschaftsverträgen wird die Okkupation 1968 verurteilt / Keine Einwände gegen Nato-Mitgliedschaft der Tschechischen Republik  ■ Von Sabine Herre

Berlin (taz) – Das Ganze kam mehr als überraschend. Als der russische Präsident Boris Jelzin gestern morgen zu einem viereinhalbstündigen Besuch in Prag eintraf, da wußten selbst offizielle Vertreter der Tschechischen Republik nicht, was das konkrete Ziel dieser Visite war. Erst am Abend zuvor hatte die Regierung von Ministerpräsident Václav Klaus den tschechisch-russischen Freundschaftsvertrag gebilligt, den ganzen Tag über hatte das Außenministerium verlauten lassen, daß eine Unterzeichnung „äußerst unwahrscheinlich“ sei.

Doch dann entschied man sich an der Moldau dafür, Jelzin im „Moskauer Machtkampf den Rücken zu stärken“. Außerdem sei, so Klaus, nun keine Zeit für unpassende Machtspiele und tschechische „Empfindlichkeiten“. Der Hintergrund: Vor Beginn seines Osteuropatrips nach Polen, in die Tschechische Republik und die Slowakei hatte Jelzin erklärt, daß Rußland nicht für die Handlungen der UdSSR verantwortlich sei. Auch wenn die tschechische Bevölkerung dem 25.Jahrestag der Okkupation der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen keine besondere Aufmerksamkeit zollte – auf diese Äußerung Jelzins hatte sie empfindlich reagiert. In dem nun doch unterzeichneten Freundschaftsvertrag findet sich ebenfalls keine Entschuldigung für die Invasion vom 21. August 1968. Statt dessen wird in der Präambel die „unakzeptable Gewalt“ des sowjetischen Regimes verurteilt.

Neben der Proklamation der russisch-tschechischen Freundschaft ging es in Prag gestern jedoch auch um einen konkreten Ausbau der gegenseitigen Beziehungen. Vor allem die Vereinbarung „russisches Rohöl gegen tschechische Industrieprodukte“ dürfte die Tschechen von ihrer ständigen Sorge um eine Sicherstellung der Energieversorgung befreit haben. Die einzige Alternative zu den russischen Lieferungen wäre die geplante Pipeline zwischen Ingolstadt und Nordböhmen gewesen. Im Zusammenhang mit den sudetendeutschen Forderungen hatte die bayerische Regierung diese aber wiederholt als Druckmittel eingesetzt.

Für das Tempo, mit dem sich Prag für die Genehmigung des Vertrags entschloß, könnte es jedoch noch einen weiteren Grund gegeben haben. Da die letzten Unstimmigkeiten für einen slowakisch-russischen Freundschaftsvertrag am Montag vom slowakischen Premier Valdimir Mečiar bei einem Besuch in Moskau aus dem Weg geräumt worden waren, wollte Prag nicht hinter Bratislava zurückbleiben.

In der Slowakei hatte sich die Diskussion über das Abkommen ebenfalls um den Umgang mit dem Jahr 1968 gedreht. Wenn die Slowakei eine Entschuldigung für 1968 fordern werde, könnten, so die oppositionelle „Partei der demokratischen Linken“, einige Kreise in Rußland auf eine Entschuldigung für die Haltung der mit Hitlerdeutschland verbündeten Slowakischen Republik im Zweiten Weltkrieg drängen. Daneben kritisierte die Opposition einen später zurückgenommenen Vertragsartikel, in dem sich beide Seiten verpflichten, im Fall eines Konfliktes mit einer dritten Seite neutral zu bleiben. Doch auch in der Slowakei war die Entscheidung zur Vertragsunterzeichnung schneller als erwartet gefallen. So hatte Mečiar noch vor einer Woche den Besuch Jelzins als reines Arbeitstreffen bezeichnet.

Fast scheint es somit, als sei Jelzin für die Überstunden in den Außenministerien verantwortlich. Der Präsident, der durch seine Erklärung, Rußland stehe einem Nato-Beitritt Polens nicht im Wege, erst am Mittwoch das Wohlwollen der westlichen Öffentlichkeit gefunden hatte, kann nun einen neuen außenpolitischen Erfolg vorweisen. Die Beziehungen zu den ehemaligen Satelliten sind auf eine demokratische Grundlage gestellt. Da Moskau keine Einwände gegen einen Nato-Gürtel im Osten erhebt, sind westliche Befürchtungen, Rußland versuche, den „Ostblock“ zu erhalten, mehr als überholt. Vielmehr dürfte es Moskau darum gehen, durch die guten Beziehungen zu Mitteleuropa selbst ein Stück näher an den „Westen“ heranzurücken.

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