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„Hier gibt es keine zivile Gewalt, nur Militär“

■ Am 14. August richteten Sondereinheiten der türkischen Armee während einer Demonstration im Bezirk Digor, Türkisch-Kurdistan, unter Dorfbewohnern ein Blutbad an

Suna Gidams Hochzeitskleid hängt immer noch im Schrank, ihre Brautgeschenke, darunter zwei Sessel und ein Stapel handgestrickter Pullover, liegen auf dem Boden. Die Hochzeit war für den kommenden Monat geplant. Aber Suna starb am 14. August – im Kugelhagel türkischer Sondereinheiten. Die paramilitärischen Regierungstruppen bekämpfen kurdische PKK-Guerilleros im Südosten der Türkei. „Ich konnte sie nicht ins Krankenhaus bringen, weil die Armee-Einheit die Straße blockiert hatte“, erklärt ihr Bruder Bulent. „Wir mußten sie mit einem Traktor ins Dorf schaffen. Zwei Stunden später war sie tot.“

Am 14. August hatten über 4.000 Kurden aus rund 40 Dörfern im Bezirk Digor, nahe der armenischen Grenze, in einem Schweigemarsch den neunten Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) begangen. Die 18jährige Suna stammte aus dem Dorf Zibini. Sie war nie zur Schule gegangen, hatte noch nie ihr Dorf verlassen und war auch noch nie in ihrem Leben fotografiert worden. „Ihre Teilnahme an der Demonstration war ihre erste politische Aktion“, sagt Bruder Bulent.

Offiziellen türkischen Berichten zufolge sollen sich militante PKK-Aktivisten unter die Demonstration gemischt haben. Sie hätten den Demonstrationszug als Deckung benutzt, aus der sie auf die Sicherheitskräfte schossen. Neun Personen sollen bei der Schießerei getötet und fünfzig verletzt worden sein. Augenzeugen aus der Region, die von Vertretern der prokurdischen „Demokratischen Arbeiterpartei“ (DEP) und Journalisten befragt wurden, streiten diese Version ab. Ihren Angaben zufolge sind 16 Demonstranten getötet und 114 verletzt worden.

„Hier hat ein Massaker stattgefunden. Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß sich unter den Demonstranten keine Terroristen befanden und daß aus der Menge nicht geschossen wurde“, erklärt der Vorsitzende der konservativen Mutterlandspartei (ANAP) in Kars, Abduerahman Konuk. Nur mit Mühe kann er die Tränen zurückhalten. Die Untersuchungsgruppe seiner Partei berichtete einer Gruppe von Journalisten, die kürzlich die Gegend besuchte, daß mindestens 10 Personen getötet und 300 verwundet worden seien.

„Wir können schießen, wann immer wir wollen“

„Das ist nackte Unterdrückung. Was sie mit diesen unbewaffneten und schutzlosen Leuten gemacht haben, heißt schlicht: ,Wir können schießen, wann immer wir wollen‘“, sagt Konuk. „Hier gibt es keine Regierung und keine zivile Gewalt. Hier gibt es nur das Militär.“

„Die Verwundeten wurden von den Soldaten zuerst an Panzerfahrzeuge gekettet und anschließend auf dem Boden zu Tode geschleift“, behauptet Fovzi Kaya, ein weiteres örtliches ANAP-Mitglied. Nach Angaben des Direktors des Krankenhauses von Kars, Huseyin Sahiyll, wurden 13 Personen in sein Hospital gebracht. Sie hätten Wunden an Händen, Füßen und im Magenbereich gehabt. Unter den Verletzten seien Frauen und Kinder gewesen.

Der Gouverneur der Region Kars, Sipki Arslan, lehnt Interviews zu dem Ereignis ab. Journalisten, die versuchten, eine Stellungnahme zu erhalten, wurden statt dessen von der Polizei gefilmt, ihre Namen wurden notiert. Die einzige offizielle Stellungnahme stammt von einem örtlichen Polizeibeamten, der sagte: „Als die Terroristen, die sich unter die Demonstranten gemischt hatten, zu schießen begannen, reagierten wir auf die gleiche Weise. Die Soldaten waren ungeschickt, aber wir – die Sondereinheiten und die Polizei – taten unser Bestes.“ Auf die Frage, wie viele Polizisten dabei verletzt worden seien, erwiderte er: „Eine Kugel streifte den Finger eines Freundes.“

Cevdet Oren aus dem Dorf Yaglion berichtet, als die Schießerei begonnen habe, sei er weggerannt. Dann habe er jedoch seinen 51jährigen Onkel stürzen sehen und sei stehengeblieben. „Ein Soldat der Sondereinheit hielt mir eine Pistole in den Mund und fragte, wer das Raketenfeuer eröffnet hätte.“ Als Oren erklärte, nichts von irgendwelchen Raketen zu wissen, wurde er am Haar gepackt und sein Kopf auf den Boden geschlagen. „Sie haben meinen verletzten Onkel über den Boden geschleift“, erinnert sich der zitternde Oren. Der Onkel starb auf der Straße. Oren wurde gemeinsam mit 144 anderen Personen drei Tage auf einer Polizeistation festgehalten. Während der ganzen Zeit seien seine Augen verbunden gewesen. Toilettengänge waren verboten, zu essen und zu trinken gab es nur Wasser und Brot. Nadire Mater (ips), Kars

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