: Muslim in Europa zu sein – ein Verbrechen?
■ Interview mit Mustafa Ćerić, der höchsten muslimischen Autorität in Bosnien
taz: Bosnien soll geteilt werden, die Menschen werden auseinandergerissen. Sie sind immer für den Erhalt des Staates Bosnien-Herzegowina eingetreten. Werden Sie jetzt trotzdem der Teilung zustimmen?
Mustafa Ćerić: Ich glaube an das Leben, und zu ihm gehört das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und nationaler Herkunft. Gott hat die Unterschiede zwischen den Menschen geschaffen, damit wir aus ihnen lernen können. Ich weiß nicht, wie man ohne diese aus den Unterschieden begründete Gemeinsamkeit leben kann.
Eines ist klar: Die Muslime Bosniens und der Herzegowina werden niemals die Teilung des Landes hinnehmen. Wir werden aber gezwungen sein, einem Plan aus Genf zuzustimmen und damit der zeitweiligen Teilung des Landes, unter der Voraussetzung, daß noch Verbesserungen möglich sind. So zum Beispiel müssen die Vertriebenen zurückkehren können, müssen die Kriegsverbrecher abgeurteilt werden, muß das Eigentum den eigentlichen Besitzern zurückgegeben werden.
Wie konnte es denn Ihrer Meinung nach überhaupt so weit kommen in diesem Bosnien-Herzegowina?
Wir waren eine friedliche Gesellschaft. Doch plötzlich sollen wir geteilt werden, weil die internationale Gemeinschaft es so will. Es sind nicht nur Karadžić und Boban, es sind Lord Carrington, Lord Owen, Cyrus Vance und Butros Butros Ghali, die von Anfang an diese Politik verfolgten. In der internationalen Gemeinschaft herrschen die Gesetze des Dschungels, die nun auf uns angewandt werden: Der Gewalt wird recht gegeben, der Löwe soll das Tier fressen. Jetzt töten sie uns, weil wir schwach sind.
Der Haß ist von Europa und aus der Welt über uns gekommen. Doch sie tun so, als seien wir es, die Bosnier, die hassen. Die Europäer akzeptieren nicht, daß wir Europäer sind. Ist es denn ein Verbrechen, Muslim in diesem Europa zu sein? Und für die islamische Welt sind wir nicht Muslim genug, weil wir Europäer sind. Doch niemand auf der Welt hat das Recht, uns nach allem, was geschehen ist, nach den Hunderttausenden von Opfern, nach den Vergewaltigungen von Zehntausenden von Frauen, nach den Vertreibungen von über einer Million Menschen und der Zerstörung von über 800 Moscheen über die Moral zu belehren.
Unsere große Illusion war, daß Europa mit uns sein würde. Unser Opfer sollte wenigstens nicht umsonst sein. Die Humanität muß wieder die Oberhand in dieser Welt gewinnen, dies ist unsere Botschaft.
Gibt es denn überhaupt keinen Ausweg?
Ich habe Angst, darüber nachzudenken, was kommen wird. Wir Muslime werden in Ghettos gesteckt, in denen man uns jederzeit eliminieren kann. Nein, wir müssen zuallererst daran denken, wie wir unser Volk noch retten können. Trotz aller Opfer haben wir als Volk noch überlebt. Wir werden zwar den Staat nicht haben, den wir haben wollen, doch wir werden nicht aufgeben, ihn wieder zu begründen.
Es ist wahr, es gibt Opfer auf allen Seiten. Doch wir sterben für Bosnien und seine Idee, während die von den Nationalisten geleiteten Kroaten und Serben für die Zerstörung Bosniens sterben. Und weil die Welt diesen Unterschied nicht erkennt, spreche man niemals mehr über die europäischen Werte, über die Idee Europas. Was sind alle Bücher wert, die über die Menschenrechte und die Menschlichkeit geschrieben wurden? Was sind die europäischen Intellektuellen wert, die den Humanismus im Munde führen, doch uns so schrecklich alleine lassen? Nein, erst eine neue Generation hat das Recht, erneut Bücher über Humanismus und Menschlichkeit zu schreiben. Interview: Erich Rathfelder,
Sarajevo
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