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Aalglatt aus der Affäre gezogen

■ betr.: „Grundgesetz contra Ko ran?“, „Grenzen der Anerken nung“, taz vom 27.8.93

Die Kontrahenten in diesem Verfahren sind nicht Grundgesetz und Koran (vulgo: ist der Koran verfassungswidrig?), sondern entweder Grundgesetz und Religionen oder aber Koran und Bibel. Einerseits unterliegt schulische Erziehung staatlicher Regelungsgewalt, andererseits reklamieren Religionen die Festlegung von Erziehungszielen und -formen für sich, was der Staat u.a. durch die Anerkennung konfessioneller Schulen konzediert. Solange nur christliche Kirchen in diese staatliche Domäne eingriffen, konnte man das stillschweigend dulden, da dieses Land nun mal christlich dominiert ist. Die „ungestörte Religionsausübung“, so wie sie in Artikel 4 (2) Grundgesetz steht, gilt aber für alle Religionen und deren Denominationen; untrennbarer Bestandteil der Ausübung ist Kindererziehung nach den jeweiligen religiösen Grundsätzen – zumal die Verfassung gleichzeitig der elterlichen Gewalt höchsten Rang beimißt. Damit sind die Konflikte programmiert.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun keineswegs eine neue Richtung eingeschlagen, wie Christian Semler meint. Es hat sich aalglatt aus der Affäre gezogen und das real existierende Zwei-Klassen-System für Religionen bestätigt: Sekten aller Art können unter dem Deckmantel der „ungestörten Religionsausübung“ und „elterlichen Gewalt“ weiterhin Kinder mit religiösen Wahnideen traktieren, weil der Staat auch die aberwitzigsten Splittergruppen toleriert, solange sie sich „christlich“ nennen; andere Religionen finden ihre Grenzen in den sogenannten „organisatorischen Vorkehrungen der Schulen“ oder verwaltungsrechtlichen Entscheidungen über die Zumutbarkeit eines Gewissenskonfliktes. Ein klarer Gerichtsentscheid wäre ans Eingemachte gegangen: Entweder man macht mit dem Grundrecht, so wie es dasteht, ernst und gibt allen religiösen Fundamentalisten (einerlei ob christlicher, islamischer, jüdischer oder sonstiger Prägung) das Recht, mit ihren Kindern alles zu tun, was ihrem religiösen Oberhaupt einfällt. Oder man definiert einen auf gesellschaftlichem common sense beruhenden Schutzraum für Kinder, in dem religiös begründete Zugriffsgewalt von Eltern begrenzt wird. Den hätten dann aber auch Zeugen Jehovas u.a. zu respektieren. Dietrich Schleip, Stuttgart

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