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Beruf: Vorleser

Während Kubas Tabakarbeiter Zigarren drehen, hören sie Literatur, aber auch banalere Worte wie Leitartikel oder Reden von Fidel Castro  ■ Aus Havanna Thomas Schmid

Bedächtig schreitet der Mann die zwei Stufen zum Podest hinauf, setzt sich dort hinter den riesigen Tisch und räuspert ins Mikrophon. Und tatsächlich, sein Hüsteln ist im ganzen Raum gut zu vernehmen, keine Stromsperre also. Das ist in diesen Tagen, wo oft bis zu sechzehn Stunden täglich kein Saft aus der Steckdose kommt, keine Selbstverständlichkeit. Manuel kann also arbeiten. Sein Beruf: Vorleser.

Wir befinden uns in der Galeere der Tabakfabrik Partagás im Zentrum Havannas, in der zweitgrößten Zigarrenmanufaktur des Landes, gegründet 1845 und somit eine der ältesten ganz Kubas. Weshalb der größte Raum der Fabrik, da, wo an die hundert Frauen und Männer die besten Zigarren der Welt rollen, Galeere heißt, kann hier niemand erklären. „Die Galeere ist eben die Galeere, die heißt in allen Tabakfabriken so“, erläutert schulterzuckend ein alter, hagerer Mann, der seit fast vierzig Jahren hier arbeitet und seine ersten Zigarren schon gedreht hat, bevor die Granma mit Fidel Castro und weiteren achtzig Revolutionären an Bord in Kuba an Land ging, um die Insel von der Diktatur Batistas zu befreien. Nein, mit einer Häftlingsgaleere habe das gewiß nichts zu tun, in der Zigarrenproduktion habe man immer Leute mit dem handwerklichen Geschick beschäftigt, das in diesem Gewerbe nun einmal benötigt werde.

Während unten die Arbeiter mit flinken Fingern die tripa, zerkrümelte kleine Tabakblätter, mit capotes, größeren Blättern, umwickeln, um schließlich das Ganze in die capa, das große Deckblatt, einzurollen und mit einer Paste aus Naturstoffen zu verkleben, während eine ältere Frau von Arbeitstisch zu Arbeitstisch geht, um die Anzahl fertiggestellter Zigarren zu notieren – die Norm ist 140 pro Tag und Person –, hat oben am großen Tisch Manuel mit der Lektüre begonnen. „Der Oberkommandierende Fidel Castro kehrte gestern nach einem Staatsbesuch in Bolivien, wo er einen beeindruckenden Empfang jenes Volkes erlebte, und einem Besuch in Cartagena de Indias, wo er sich mit dem kolumbianischen Präsidenten César Gaviria traf, in sein Vaterland zurück. Der oberste Führer der Revolution kam in unserer Hauptstadt am Nachmittag fünf Minuten nach sechs Uhr an, womit diese Reise zu Ende ging, deren wichtigstes Ziel Bolivien war, wo ihm die Massen ihre breite Unterstützung kundtaten.“ Er liest den aktuellen Leitartikel der Granma, des Organs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas, inzwischen einzige Tageszeitung der Insel, die früher in einer Auflage von 700.000 vertrieben wurde, heute aufgrund des Papiermangels aber nur noch in 250.000 Exemplaren erscheint.

Über Mikrophon wird Manuels Stimme in die anderen Räume übertragen, in das obere Stockwerk, wo der alte José die Tabakblätter wägt und sortiert, in den Nebenraum, wo drei Frauen die Blätter entrippen und glattstreichen, in den Klassenraum, wo achtzig Jugendliche angelernt werden, und ins Magazin, wo die fertigen Zigarren ihr Gütesiegel erhalten und in Schachteln aus Zedernholz verpackt werden.

Die Lektüre hat in der Tabakindustrie eine lange Tradition. Schon 1865 wurde in El Figaro (USA) der erste Vorleser eingestellt. Auch der kubanische Schriftsteller, Journalist und Rechtsanwalt José Marti, der den letzten antikolonialen Krieg Lateinamerikas anführte und der heute in Kuba als Vorkämpfer der Unabhängigkeit der Insel verehrt wird, arbeitete zeitweilig als Vorleser. Er benutzte seinen Arbeitsplatz als politische Tribüne. Seine Reden, die er im US- Exil in einer Tabakfirma in Tampas (Florida) vortrug, wurden kopiert und in zahlreichen Fabriken Kubas, damals noch spanische Kolonie, vorgelesen. Manuel erzählt die Geschichte nicht ohne Stolz. Sein seltener Beruf – es gibt in Kuba zwei Dutzend Tabakfabriken und ebenso viele Vorleser – hat eine glorreiche Vergangenheit.

Die Lektüre, erläutert Paco, der als Vorleser bei einer der übrigen acht Tabakmanufakturen Havannas arbeitet, gliedert sich in zwei Teile: Information und Literatur. Die lectura informativa findet am Morgen statt, anderthalb Stunden, unterbrochen durch eine viertelstündige Pause. Da wird das Wichtigste aus der Granma vorgelesen, die, was Informationsgehalt, kritische Substanz und intellektuelles Niveau betrifft, etwa mit dem früheren Neuen Deutschland der verblichenen SED der einstigen DDR vergleichbar ist. Mit anderen Worten, man findet da viel Propaganda und wenig Information, und gewiß nichts Subversives. Trotzdem: Was das Wichtigste ist, entscheidet der Präsident der Lektürekommission. Er unterstreicht die Passagen, die der Vorleser vorzutragen hat, und zwar im politischen Teil, im Feuilleton wie auch auf den Sportseiten.

Im übrigen ein höchst demokratisches Verfahren. Denn jede Abteilung der Fabrik wählt einen Delegierten in die Lektürekommission, die dann ihren Präsidenten bestimmt. Der ist ein Arbeiter wie die andern Kommissionsmitglieder auch, bloß daß er eine Stunde freigestellt wird, um die Zeitung zu lesen und die vorzulesenden Stellen zu markieren.

Am Nachmittag wird 50 Minuten lang aus einem Roman vorgelesen, wenn nicht lectura priorizada, vorrangige Lektüre, angesagt ist. Denn wenn Fidel Castro eine Rede hält – und der Máximo lider ist nicht nur bekannt für seine sprachgewaltige und feurige Rhetorik, sondern auch für seine Ausdauer –, kann das gut und gerne zwischen zwei und sechs Stunden in Anspruch nehmen, und da die in der Regel in vollständigem Wortlaut in Granma abgedruckten Reden von A bis Z vorgelesen werden, dauert es eben auch zwischen zwei und sechs Stunden. Das geht dann halt auf Kosten des nachmittäglichen literarischen Teils.

Aber, wie gesagt, wenn der Revolutionsführer nicht gerade eine seiner Reden gehalten hat, gibt es Belletristik zum Nachtisch. „Das ist dann viel anstrengender als die Information“, meint Paco, „da kann ich nicht mehr nebenbei meine Zigarre rauchen wie bei der Zeitungslektüre am Morgen.“ Das erfordert höchste Konzentration, „da mußt du zehn Rollen gleichzeitig spielen, mit zehn verschiedenen Stimmen, da mußt du Angst und Wut, Verführung und Haß, Verliebtheit und Trauer mimen.“ Wenn die Dramaturgie der Lektüre gefällt, wird zum Applaus mit der chaveta, dem halbrunden Tabakmesser, auf die Tische getrommelt. Wenn der Vorleser sein Publikum zu oft langweilt, riskiert er seinen Job. Die Auswahl der Romane treffen die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Urabstimmung. Was sie denn am liebsten hören würde? Marisa, die breitbeinig da sitzt, auf ihren Oberschenkeln mit beiden Händen Tabakblätter geradestreicht, antwortet, ohne zu zögern: „Das Parfum.“ Ihre Kolleginnen von der Tabakmanufaktur H. Upmann hätten ihr davon erzählt. Süskinds Roman über den Mann mit dem superfeinen Riechorgan, der in der benachbarten Fabrik gerade vorgelesen wird, erhält wohl hier in diesem vom schweren süßlichen Duft der Tabakblätter geschwängerten Raum seinen besonderen Reiz.

„In der Tabakindustrie findest du die belesensten Arbeiter des Weltproletariats“, sagt Paco, und in der Tat, wer wie der 50jährige José, der bei Partagás Tabakblätter nach Qualität, Größe und Gewicht sortiert, seit über zwei Jahrzehnten in der Zigarrenmanufaktur arbeitet, hat Charles Dickens, Fjodor Dostojewski, Jorge Amado, Carlos Fuentes, Vásquez Montalbán und Agatha Christie vielleicht zwar nie gelesen, aber sicher schon mehrfach gehört. Und natürlich kennt er auch Alexandre Dumas, der sich hier wegen seines Romans „Der Graf von Monte Christo“ besonderer Beliebtheit erfreut, auch wenn der Monte Christo des Franzosen nichts mit dem Montecristo der Kubaner zu tun hat. Durchschnittlich dauere die Lektüre eines Romans – in Happen von 50 Minuten vorgelesen – so zwei bis drei Monate, sagt Paco, aber es könne auch schon mal ein halbes Jahr dauern, wie etwa bei Gabriel Garcia Márquez' „Die Liebe in Zeiten der Cholera“. In einem Arbeitsleben eines Zigarrendrehers kämen da schon so an die 200 Romane zusammen.

Und da ist vieles darunter. Ob mehr Trivialliteratur oder mehr Werke von Weltrang, hängt vor allem vom Vorleser ab. Ein guter Vorleser, so Paco, bringe seine Vorschläge in der Abstimmung fast immer durch, vorausgesetzt, daß er überzeugend argumentiere und sich nicht zu schade sei, hin und wieder auch eine billige Liebesschmonze oder einen mittelmäßigen Krimi vorzulesen. Und was passiert, wenn sich die Belegschaft für einen Roman von Guillermo Cabrera Infante oder Jesús Diaz entscheidet? Paco zuckt zusammen, nur kurz, fast unmerklich, schaut sich um, niemand hört zu, dann sagt er: „Das vorzuschlagen geht gar nicht.“ Weshalb nicht? „Das trauen sie sich nicht“, präzisiert er. Und wenn er das vorschlüge? „Dann wäre ich noch am selben Tag meine Arbeit los.“

Guillermo Cabrera Infante, 1961 als Freund der Revolution mit dem Posten eines Kulturattachés in Brüssel beehrt, vier Jahre später zum Teufel geschickt, lebt heute in London. Seine „Drei traurigen Tiger“, inzwischen auch in deutsch erschienen, werden in Kuba unter dem Tisch gehandelt. Der Schriftsteller Jesús Diaz, einst wohlgelitten, ist von seinem Stipendiatenaufenthalt in Berlin nicht mehr zurückgekehrt, nachdem ihm der inzwischen ausgetauschte Kulturminister Armando Hart im vergangenen Jahr geschrieben hatte: „Die Gesetze sehen für Deine Niedertracht keine Todesstrafe vor, aber die Moral und die Ethik der kubanischen Kultur werden Dich noch härter strafen.“ Die Niedertracht, das war eine moderate Kritik an der kubanischen Politik, vorsichtigerweise gepaart mit einer scharfen Kritik am US-Handelsembargo. Cabrera Infante und Jesús Diaz sind personae non gratae.

Sicher gibt es Zensur in Kuba. Noch darf ein Cabrera Infante oder ein Jesús Diaz nicht vorgelesen werden. „Aber das sind deine Probleme, die eines westeuropäischen Journalisten“, sagt Paco, der Vorleser, „die Leute hier zerbrechen sich darüber nicht den Kopf. Sie wollen bei ihrer Arbeit unterhalten werden. Sie verlangen nach einem Vorleser, der von Dramaturgie etwas versteht, der gute Stimmung schafft und dafür sorgt, daß die Zeit schneller vergeht. Zensur? Verbote? Die haben andere Probleme.“

In der Tat. 163 Pesos monatlich verdient ein Arbeiter bei Partagás im Durchschnitt, zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Auf dem Schwarzmarkt erhält er dafür gerade etwa zwei Dollar. Die Edelzigarre, die im Laden der Partagás- Fabrik zum Stückpreis von vier Dollar verkauft wird, wird auf dem Schwarzmarkt um die Ecke jedem Touristen für einen Dollar angedreht. Sie stammt aus dem gleichen Haus, es ist die gleiche Qualität. Kein Wunder. Es sind die gleichen Hände, die die legalen und die illegalen Zigarren rollen. Am Eingang der Fabrik muß zwar jeder Beschäftigte die Tasche öffnen, ab und zu wird auch ein Körper nach Schmuggelgut abgetastet. Doch die komplette Schachtel Partagás zu 25 Zigarren, die im fabrikeigenen Laden dem Ausländer für 85 Dollar angeboten wird, findet man dennoch auf der Straße für 25 Dollar, mit der haargenau gleichen Verpackung. Es ist echtes Zedernholz aus dem Hause Partagás, und auch das Gütesiegel ist echt. In der Tabakindustrie findet man nicht nur die belesensten Arbeiterinnen und Arbeiter des Weltproletariats, wie Paco, der Vorleser, schwärmt, sondern auch die flinken Finger, die die Kunst des Zigarrendrehens nun mal erfordert.

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