: Thatcherismus in der Türkei
Die neue türkische Regierungschefin Tansu Ciller macht mit der Privatisierung der Staatskonzerne Ernst / Verscherbeln oder schließen? ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Der türkische Großindustrielle Sakip Sabanci verglich sie jüngst mit Blutegeln. Gemeint waren damit die hochverschuldeten öffentlichen Wirtschaftsunternehmen, die seit den dreißiger Jahren der türkischen Wirtschaft ihren Stempel aufdrücken. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 gründete der Staat eine Reihe großindustrieller Betriebe, die bis heute direkter staatlicher Kontrolle unterstehen. Ob Papier-, Chemie- oder Metallindustrie – die staatlichen Betriebe sind aus dem türkischen Wirtschaftsleben nicht wegzudenken. Fast 600.000 Arbeiter sind in staatlichen Industriebetrieben beschäftigt. Hinzu kommen 1,5 Millionen staatliche Beschäftigte im nichtindustriellen Sektor, im Handel oder im Dienstleistlungsbereich.
Schon seit Jahren werden die staatlichen Betriebe als das wirtschaftliche Problem schlechthin betrachtet. Quer durch alle Parteien predigen Politiker, daß die öffentlichen Unternehmen für den defizitären Staatshaushalt und die hohe Inflationsrate von 70 Prozent verantwortlich sind. Turgut Özal, der nach dem Militärputsch als erster Ziviler Ministerpräsident wurde, hatte bereits bei seinem Amtsantritt 1983 den öffentlichen Wirtschaftsunternehmen den Kampf angesagt: „Ohne auf ihre Größe zu achten, werden wir sie an den ersten Anwärter verkaufen.“
Özal, der die auf Importsubstitution beruhende türkische Wirtschaft liberalisierte und auf den Export trimmte, leitete erste Schritte ein – doch zu groß waren die innenpolitischen Widerstände. Der Tod Özals, der zuletzt Staatspräsident war, hat den Ruf nach Privatisierung nicht verstummen lassen. Im Gegenteil: Die neue Ministerpräsidentin Tansu Ciller, Margaret Thatcher persönlich sehr verbunden, will nachholen, was Özal nicht geschafft hat. Türkische Medien haben ihr bereits heute in Nachahmung des britischen Beispiels den Spitznamen „Eiserne Lady“ gegeben.
Bereits in den Koalitionsverhandlungen mit der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ zeigte sich die ehemalige Wirtschaftsprofessorin und heutige Chefin der Partei des rechten Weges eisern. „Falls die Sozialdemokraten nicht die Privatisierung der türkischen Post akzeptiert hätten, wäre diese Koalition nicht gegründet worden. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Wir sind an der Mauer angelangt. Entweder springen und überwinden wir sie, oder wir stürzen ab.“
Das Privatisierungsmodell der neuen Ministerpräsidentin folgt den Modellen in anderen kapitalistischen Industriestaaten. Profitable Sektoren der öffentlichen Unternehmen werden abgetrennt und verkauft. Die defizitären Betriebsteile verbleiben zunächst beim Staat, sollen dann aber geschlossen werden. Mit den Einnahmen aus der Privatisierung könne man Sozialpläne für die Entlassenen finanzieren.
Als ersten Schritt versuchte Ciller per Verfügung den Telekommunikationsbereich der türkischen Post abzutrennen, um anschließend diesen Betriebsteil zu verkaufen. Doch vergangene Woche stellten sich die sozialdemokratischen Koalitionspartner quer. Ohne ein reguläres Gesetz könne das T der PTT (Posta, Telgraf, Telefon) nicht verkauft werden, mahnte der sozialdemokratische Justizminister Seyfi Oktay. Der Verband der Ingenieure und Architekten nannte die Verfügung verfassungswidrig, und die zuständige Gewerkschaft Tüm Haber Sen kündigte Widerstand an.
Nicht nur bei der Privatisierung der Post stieß die Ministerpräsidentin auf Widerstand. Yilmaz Özbay, Vorstandsvorsitzender des staatlichen Düngemittel-Konzerns IGSAS, drehte den Spieß um. Der Staat sei für die Misere in den öffentlichen Unternehmen verantwortlich. Seit Mitte der siebziger Jahre hätten die Zentralbank und die staatliche Investitionsbank keine Kredite mehr gewährt. IGSAS kontrolliert 80 Prozent des Düngermarktes in der Türkei und macht immer noch Gewinne. Auch der Vorstandsvorsitzende des staatlichen Papierkonzerns SEKA, Ismet Riza Celebi, klagte über die „Privatisierungsmode“. Fehlende Investitionen seien dafür verantwortlich, daß die Arbeitsproduktivität bei den staatlichen Betrieben niedrig sei.
Doch Ministerpräsidentin Tansu Ciller hat die stärkeren Bataillone auf ihrer Seite. Der Arbeitgeberverband TÜSIAD, das Sprachrohr der Großindustrie, machte vor wenigen Monaten in einem Bericht darauf aufmerksam, daß die öffentliche Verschuldung inzwischen 16,3 Prozent des Bruttosozialproduktes ausmacht. „Die Unwilligkeit, unökonomische industrielle Einheiten zu schließen und in breitem Rahmen Beschäftigte zu entlassen, hat zu Schwierigkeiten bei der Realisierung der Privatisierungspläne geführt.“ TÜSIAD drängt darauf, ohne Rücksicht auf Opfer die Privatisierungspläne durchzusetzen. Halis Komili, Chef der TÜSIAD, spricht es unverhohlen aus: „Die populistische Politik ist am Ende.“
Auch in einem Bericht der Weltbank vom 13. Juli dieses Jahres wird auf „radikale Maßnahmen“ gedrungen, um die Löcher der öffentlichen Wirtschaftsunternehmen zu stopfen. Sie stehen inzwischen mit insgesamt rund 15 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Bei der Reform dürften vor allem die fünf großen öffentlichen Unternehmen, die für 58 Prozent dieser Schulden verantwortlich sind, unter keinen Umständen vergessen werden. Die Rede ist von den Elektrizitätswerken, der Eisenbahn, der Post, dem staatlichen Alkohol- und Zigarettenmonopol und der landwirtschaftlichen Aufkauforganisation.
Der Konflikt spitzte sich nach dem Bericht weiter zu. Die Privatisierungspläne der Regierung haben inzwischen nicht mehr nur die staatlichen Beschäftigten, die traditionell einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad haben, aufgeschreckt, sondern auch die landwirtschaftlichen Produzenten. Sie bangen um ihre Verkaufspreise. Schließlich zahlte der Staat bislang über die agraische Aufkauforganisation höhere Preise als auf dem Weltmarkt üblich. Dem soll ein Ende bereitet werden. Vergangene Woche rückten thrazische Bauern mit Transparenten vor den staatlichen Molkereibetrieb SEK und protestierten gegen die Privatisierungspläne.
Schnöde und kurzfristige Interessen hat der linke Wirtschaftsprofessor Korkut Boratav bei den Privatisierungsprojekten der Regierung Ciller ausgemacht. Sie seien nicht als Intervention gedacht, um die Produktivität zu erhöhen, sondern nur ein Mittel, um kurzfristig den defizitären Staatshaushalt aufzufüllen. „Sie wollen heute die öffentlichen Unternehmen verkaufen, damit sie in zwei Jahren ihre Finanzprobleme los sind.“
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