piwik no script img

Ein Volk von Aktionären

90 Prozent der Russen tauschen ihren Voucher in Aktien um / Trotz neuer Attacken des Parlaments beschleunigt sich die Privatisierung  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Stellen Sie sich vor, Sie sind Eigentümer, haben ein Unternehmen, ein Gebäude, irgendein Vermögen privatisiert ... und nach vielem Schwitzen machen Sie sich endlich daran, den Markt zu erobern. Die Sache läßt sich allmählich an, Ihr Eigentum dient als Pfand für Kredite; aber gerade als Ihr Erfolg auf des Messers Schneide steht, kommt Ihnen ein staatliches Onkelchen ins Haus geschneit. Entschuldige Alter, sagt er, uns ist da ein Fehlerchen unterlaufen: Dein Teilchen ist zu fett für dich, jetzt braucht der Staat es nötiger. Als komm, rück's schon raus und zisch ab!“

Die von der Moscow News so beschriebene Situation drohte diesen Sommer dem ganzen russischen Volk: Das Parlament verhängte ein Moratorium über die Privatisierung und verfügte einen Handelsstopp für die Voucher. Der Anschlag galt selbstverständlich nicht dem Privatbesitz an Immobilien, denn längst hatten auch die Abgeordneten von dem allen RussInnen zustehenden Recht Gebrauch gemacht, ihren Wohnraum gegen eine geringe Gebühr als Eigentum zu erwerben. In Frage gestellt wurde vielmehr das Eigentum an Produktionsmitteln und damit der Status von 3.500 großen und mittleren Unternehmen, die in den ersten acht Monaten dieses Jahres in Rußland schon unter den Hammer gekommen sind.

Präsident Jelzin reagierte mit einem Ukas „Über die staatliche Garantie des Rechtes der Bürger auf die Teilnahme an der Privatisierung“. Und prompt zog am 21. Juli das Parlament nach, indem es diesen Präsidentenerlaß zur Überprüfung an das Verfassungsgericht weiterreichte und somit aktuell außer Kraft setzte. Jelzin, nicht faul, erließ sofort einen neuen Ukas, der Beamten unter Strafe verbietet, den Vollzug des Privatisierungsprozesses aufzuhalten.

Das Spiel ließe sich beliebig verlängern. Auf die seit Beginn dieses Jahres stattfindenden Privatisierungsauktionen, sollte man meinen, müßte ein solcher Einbruch von Rechtsunsicherheit gewirkt haben wie ein in einen Ameisenhaufen geschleuderter Stein. Doch die Statistik wartet mit Zeichen und Wundern auf: Eine wesentliche Verminderung der Aktivität konnte lediglich im Mai dieses Jahres vor dem Referendum verzeichnet werden. Von den 120.000 Einzelhandelsgeschäften und Gastronomiebetrieben sind 70 Prozent inzwischen privatisiert, wie der Berater des Vorsitzenden der obersten Privatisierungsbehörde, des „Staatskomitees für Eigentum“, Maxim Bojko, Ende August bekanntgab.

Im Juni und Juli stieg das Tempo der Auktionen weiter an, und in jedem der beiden Monate kamen 700 bis 800 Unternehmen unter den Hammer. Im Juli sanken zwar die Kurse der Aktien, nicht aber der Wert der Voucher – weshalb die Nachfrage nach den Privatisierungsschecks sprunghaft anstieg.

Die BürgerInnen ließen sich auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg also von der parlamentarischen Obstruktion kaum beirren. Von den professionellen Händlern gehen viele davon aus, daß es sich bei den Aktivitäten des Parlamentes eigentlich um eine großangelegte Operation gewisser finanzieller Kreise handelte, um ebendiese Kurssenkung zu erzielen. Nicht zufällig kamen gerade im Juli die bisher prestigeträchtigsten Aktien auf den Markt. Allein für das zentrale Moskauer Warenhaus GUM und den Touristensilo „Hotel Kosmos“ wurden in Null Komma nichts zwei Millionen Schecks auf den Tisch gelegt. Verkauft wurden diese Aktien nicht nur in Moskau. Auktionen finden in allen russischen Regionen statt, am aktivsten in Moskau, St. Petersburg, Iwanowo und Swerdlowsk.

Dem Privatisierungsgesetz zufolge haben BürgerInnen die Möglichkeit, in jedes Unternehmen des Landes zu investieren. Jede Person hat ungeachtet ihres Alters zu Beginn dieses Jahres einen Voucher, auch Privatisationsscheck genannt, im nominellen Wert von 10.000 Rubel erhalten (s. Kasten). Anteile an Unternehmen aus der Nahrungsmittel-, Tabak-, Möbel-, und holzverarbeitenden Industrie sind, Bojko zufolge, besonders begehrt. Die Käufer bevorzugen dabei relativ kleine Unternehmen, bei denen sie sich als Aktionäre mehr Einfluß versprechen – und die Giganten, deren Wertpapiere als lukrativ gelten.

Gerade bei den letzteren ist allerdings der Belegschaft schon vor den Auktionen das Recht auf Erwerb eines hohen Prozentsatzes von Aktien, oft gratis, zugesprochen worden. Von diesem Kuchen schustert sich zuerst das Management einen guten Anteil zu, um dann die Beschäftigten und Rentner mit Aktien zu versorgen. Im Falle der Moskauer ZIL-Automobilwerke fielen 30.000 Personen unter die Kategorie der so Begünstigten.

Kein Wunder, daß in diesem wie im letzten Jahr 42 Prozent der Moskauer Bürger die Art, wie die Privatisierung vonstatten geht, für „ungerecht“ halten und nur 14 Prozent für „gerecht“. Dies ergeben Untersuchungen des „Instituts für die Soziologie des Parlamentarismus“. Die Umfrage zeigt aber, daß trotz aller Hindernisse der Privatisierungszug in der russischen Gesellschaft abgefahren ist.

Zwar hat sich die Zahl der Moskauer verringert, die sich von ihrem Privatisierungsscheck eine Verbesserung des eigenen Lebensstandards versprechen. Aber immerhin 46 Prozent haben mit diesem Wertpapier irgend etwas angefangen. 26 Prozent investierten ihren Voucher in einen Fonds. In weniger als einem Jahr haben sich diese Fonds zu einer entscheidenden Kraft auf dem russischen Kapitalmarkt gemausert.

Fünf Prozent der Moskauer kauften Aktien des Unternehmens, bei dem sie angestellt sind, und vier Prozent die Aktien irgendeines anderen Unternehmens. Nur 10 Prozent haben ihren Voucher verkauft. Schon arbeiten vier Millionen in einem privatisierten Unternehmen.

In diesem Herbst wird ein weiterer Anstieg der Aktivitäten auf den Privatisierungsauktionen erwartet. Eine große Zahl von Unternehmen hat nach der Urlaubsphase Aktienpakete für den Verkauf fertig zusammengestellt.

Die Privatisierung erweist sich als Angelpunkt nicht nur des ökonomischen, sondern auch des politischen Lebens in Rußland. Nicht umsonst steht Ex-Ministerpräsident Jegor Gajdar als Vorsitzender der „Assoziation privatisierter und privater Unternehmen“ an der Spitze des politischen Blockes „Russische Wahl“. Dies ist die Bürgerinitiative, die von möglichst baldigen Parlamentswahlen nicht nur redet, sondern sie auch aktiv vorbereitet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen