Somnamboulevard – Applausologie Von Micky Remann

Lilas jüngere Schwester Silvia macht dieser Tage einen Prozeß der seelischen Selbsterkundung durch, der ihr manches über ihr Dasein entschleierte, anderes aber verbarg. Was jener Prozeß zum Beispiel enthüllen konnte, war ihre auffallende Neigung zu jedwelchem Applaus. Wo immer Menschen ihre Hände, egal aus welchem Grund, mit Schmackes gegeneinanderklatschen und -prasseln ließen, fühlte sich Sivia wohl und hingezogen. Nicht daß sie den Applaus auf sich gemünzt hätte, dafür war sie viel zu schüchtern, nein, sie genoß, wie andere eine Massage oder zwei Gläser Bier genießen, das akustische Phänomen des Applauses als solches.

Leiten ließ sie sich dabei von einem ahnungsvollen Wohlgefühl, das ihre Magengegend wie eine Sommerdusche durchflutete, wenn irgendwo irgendwem applaudiert wurde, egal ob rhythmisch oder nicht.

Überflüssig zu erwähnen, daß Silvia bevorzugt auf Popkonzerten, Theaterabenden, Festakten, politischen oder sportlichen Massenveranstaltungen zu finden war. Deren Inhalt war ihr dabei völlig schnuppe. Das Gesagte oder Gesungene oder sonstwie Dargebotene ließ sie unberührt an sich abtropfen und, um die Zeit während der Shows nicht zu verplempern, las sie derweil ein gutes Buch oder döste sich einen ab.

Doch wenn's dann kam, dann kam's: Im Moment, da der Applaus einsetzte, aufbrauste und aufbrandete, kulminierend hochschäumte und in ekstatischer Toserei über das Äußerste hinaus noch sich selbst überschwappte, um dann wieder wellenmäßig abzuschwellen, abzuebben und leise ondulierend auszurieseln, erwachte Silvia zu neuem Leben. Sie erhob sich, atmete tief durch wie in frischer Gewitterluft und stülpte ihr ganzes Wesen jener energetischen Beifallsentladung wie einem willkommenen Beben entgegen. Sie war es auch, die noch „Zugabe!“ rief, wenn sich alle anderen Claqueure mit qualmenden Innenhandflächen längst verausgabt hatten, womit sie aber nicht etwa die Künstler, sondern das Publikum anstachelte, seine letzten Reserven in ein abermals aufbäumendes Applaudieren hinein zu ergießen. Dann sank sie matt, aber glücklich zusammen, ging nach Hause und las ihr Buch weiter.

Bei dieser Sachlage wundert es nicht, daß Silvia ihre psychosomatische Veranlagung mit ihrem beruflichen Werden zu verbinden trachtete. Tatsächlich gelang es ihr, die Universität Bremen zur Gründung des „Instituts für sozialpsychologische Applausologie“ zu bewegen, dessen Direktorin sie wurde. Bald schwärmten ihre StudentInnen zu allen Special Events aus, um mit eigenen Meßgeräten – Applausometern – die psychogalvanische Intensität und den Orgongehalt des jeweiligen Applauses in detaillierten Applausogrammen zu notieren.

Soviel zu den seelischen Zusammenhängen, die sich Silvia selbst entschleierte. Doch wo, fragst Du, bleiben die verborgenen? Nur ihr Unterbewußtes wußte es: Als Wickelkind war Silvia in einem Kanu auf der Südsee unterwegs gewesen. Dort hatte sich der Klang des Klatschens der Paddel auf die Wasserfläche ihrem Gehör unverstanden, aber bedeutungstief eingeprägt, und dieser für sie so paradiesische Klatschklang bewirkte, daß sie ihr ganzes Leben der Suche nach dem verlorenen Applaus widmete.