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■ Laudatio zur Verleihung des Aachener FriedenspreisesIhr und unser Gefängnis

Seit 1988 verleiht eine Bürgerinitiative den Aachener Friedenspreis an „Frauen und Männer und Gruppen, die dazu beigetragen haben, der Verständigung der Völker und Menschen untereinander zu dienen sowie Feindbilder ab- und Vertrauen aufzubauen“. Dieses Jahr ging der Preis, der gestern verliehen wurde, an den haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, der 1991 ins Exil geputscht wurde, sowie an Reinhard Egel und Günter Lott vom „Netzwerk Friedenssteuer“, das schon seit über zehn Jahren dazu auffordert, 20 Prozent der Steuerschuld – so viel macht der Rüstungsetat am Gesamthaushalt aus – auf ein Friedenskonto einzuzahlen. Die Laudatio zur Verleihung des Aachener Friedenspreises, die wir in Auszügen nachdrucken, hielt die Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle.

[...] Eine baptistische Freundin aus den Vereinigten Staaten erzählte von einer Meßfeier in Haiti, bei der die Geschichte vom König Herodes, der Angst hatte, seinen Thron zu verlieren und deshalb alle Kinder der Region vorsorglich ermorden ließ, als Schriftlesung zu hören war. Der Priester sagte in seiner Ansprache dazu „Wir haben viele Könige Herodes in Haiti“. Kurz danach wurde die Kirche überfallen, die Leute, die an der Messe teilnahmen, zusammengeschlagen, die Hostien herumgestreut, der Kelch zerbrochen. Die Jugendlichen aus der Kirchengemeinde verließen das Dorf und leben versteckt. Der örtliche Bischof griff trotz dieses Sakrilegs nicht ein; fast die gesamte Hierarchie in Haiti steht auf der Seite der wenigen Reichen und sieht ihren Terror als das kleinere Übel gegenüber dem Chaos der Lawinen an. Die vielen Könige Herodes sind die Anführer der 515 Sektionen, in die das Land eingeteilt ist. Sie besitzen im Grunde genommen eine unbegrenzte Macht. Sie haben schwerbewaffnete Bevollmächtigte bestimmt, die kein Gehalt bekommen, aber angespornt werden, die Bevölkerung zu terrorisieren und sich selbst durch Stehlen und Erpressung derer, die sie angeblich beschützen sollen, zu erhalten. Es gibt viele Könige Herodes in Haiti.

Auch in unserem Land, das sich in manchen Hinsichten als wohlgeordnet und rechtsstaatlich darstellt, gibt es Unterstützung für Herodes und den Mord an den unschuldigen Kindern. Wir sind Nutznießer der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung im Interesse der Könige Herodes, und wie er brauchen wir dazu immer wieder neu Soldaten, Waffen und kostspielige Ausrüstung. Somalia funktioniert zur Zeit als die Einstiegsdroge in diese neue militaristische Machtpolitik, die mit schönen Wörtern wie ,Weltverantwortung‘, ,friedenerhaltende Mission‘ der Bevölkerung weismachen will, daß wir, obwohl uns der Feind abhanden gekommen ist, doch vor allem die herodianische Politik weiterbetreiben müssen; Waffen, bessere, neue, müssen her, mit den älteren werden die Länder aufgerüstet, in denen wir dann wieder „friedensichernde“ Maßnahmen einleiten. So braucht die Nato jetzt dringend Tropenanzüge ... und dabei wird es nicht bleiben.

Was hat das denn mit uns zivilen Bürgerinnen und Bürgern zu tun? Die Antwort ist einfach, es hat mit dem Wichtigsten zu tun, mit dem, das manche für unsere Seele halten, mit unserm Geld! Wir bezahlen Steuern, etwa 20 Prozent davon gehen in den Rüstungsetat. Wir alle beteiligen uns an den Verbrechen: Aufrüstung, Kriegsvorbereitung für uns und unsere Feinde, Ausplünderung der Armen und unterlassene Hilfeleistung. „Wir alle“ habe ich gesagt, weil Steuerzahlen ja so selbstverständlich ist wie Atemholen, aber es stimmt nicht ganz, und da kommt wieder die Freude zum Vorschein und das Loben, einige leben anders. Etwa 5.000 Menschen in unserm Land haben die Nase voll von diesem Verhalten. Wenn es ein Recht für junge Männer darauf gibt, nicht töten zu lernen, zivil zu bleiben, auch dann nicht, wenn „töten“ heute Frieden erhalten oder schaffen genannt wird, dann muß es auch das Recht für ältere, Geld Verdienende geben, nicht das Töten zu finanzieren. Wir können nicht für den Frieden beten und zugleich für den Krieg zahlen! Dieser einfache und klare Grundsatz der Friedenssteuerleute ist schwer durchzuführen und zu leben. Es steht da ein langer, zäher Kampf an, ein gewaltfreier Kampf innerhalb der bejahten Rechtsordnung. Ein Versuch, dem Kaiser nur das zu geben, was des Kaisers ist, nicht aber das, was Gott gehört, das Leben selber, das wir mit den Mitteln der Gewalt vernichten. Und so ist auch der Kaiser, der Staat, die derzeit herrschende Ordnung nicht der Gegner in dieser Auseinandersetzung, sondern eher die Unwissenden und die Abseitsstehenden. Die Anzahl derer bei uns, die abseits stehen, Hoffnungen aufgegeben haben, wieder alles mit sich machen lassen, ihre private Lebenswelt pflegen, ist ja mit den neunziger Jahren ungeheuer gestiegen. Um so schöner ist es zu wissen, daß auch die Anzahl derer, die am Geld, also im Herzen des Systems ansetzen, mit dem Golfkrieg sprunghaft gewachsen ist. Steuern für den Kriegsetat zu verweigern ist eine Art, das in der Gewaltverehrung gefangene Gewissen zu befreien.

Laßt mich noch einmal mit den Worten des rechtmäßigen Präsidenten von Haiti sprechen, um klarzumachen, was Befreiung heißt. Er spricht über sein Land, aber ich denke, wir könnten lernen, viele seiner Sätze auch für uns zu hören. „Haiti ist ein Gefängnis. In diesem Gefängnis gibt es Regeln, die man befolgen muß, sonst wird man umgebracht. Eine Regel lautet beispielsweise: Bitte nie um mehr, als der Wärter Dir zuteilt. Verlange nie mehr als eine Tasse Reis oder einen Trunk schmutzigen Wassers jeden Tag oder jede Woche... Eine weitere Regel: Organisiert Euch nicht, redet mit den Mitgefangenen nicht über Euer Los. Haßt Eure Mitmenschen! Noch eine Regel: Nehmt Eure Strafe stillschweigend an und schreit nicht.“

Aristide sagt weiter: „Wenn wir diese Regeln befolgen, dann werden wir gewiß an der Peitsche zugrunde gehen. Ich sage: Gehorcht diesen Regeln nicht! Verlangt mehr! Laßt Euer Elend hinter Euch! Organisiert Euch mit Euren Brüdern und Schwestern! Akzeptiert Euer Schicksal nicht! Seid voller Hoffnung! Lehnt die Verelendung Eurer Armenpfarreien ab. Entkommt dem Leichenhaus und sucht das Leben. Schreitet heraus aus dem Gefängnis und marschiert auf den harten und erbarmungslosen Wegen, die zum Leben führen...“

Ich glaube, das gilt nicht nur für die Verelendeten, sondern auch für die, die im Gefängnis des Militarismus und der gewalttätigen Zerstörung unserer Erde leben, in einem komfortabel eingerichteten Luxusgefängnis, das die Seele zugrunde richtet, weil es die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit und weniger Gewalt zu einer Asylantin, die hier kein Wohnrecht hat, gemacht hat. [...] Dorothee Sölle

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