: Parteiergeben im Dienste der „Wahrheit“
Beim Urteil gegen den ehemaligen „Waldheim- Richter“ Jürgens, der mit Bewährung davonkam, wurde klar, wie problematisch es ist, wenn ein Staat über Unrechtstaten eines anderen Staates urteilt.
Nazi-Richter, so sie denn überhaupt angeklagt wurden, haben sich anders verteidigt. Sie haben darauf verwiesen, daß sie besten Wissens und Gewissens grausame Strafen ausgesprochen haben und anschaulich ihren Glauben in die Gesetze des Naziregimes dargelegt. Kein einziger dieser Richter wurde jemals zur Verantwortung gezogen. Bei einer solch ungetrübten Überzeugung, so meinte man damals, könne eine Rechtsbeugung nicht nachgewiesen werden. Anders Otto Jürgens, der sich in den vergangenen zehn Monaten vor dem Leipziger Landgericht zu verantworten hatte. Weder hat der Mann, der im Jahre 1950 als Beisitzender Richter an der Verurteilung von angeblichen Naziverbrechern beteiligt war, sich „in die Verhandlungsunfähigkeit geflüchtet“, wie es der Vorsitzende Richter Wolfgang Helbig aus München formulierte, noch hat er seine leisen Zweifel an den damaligen Verfahren verschwiegen. Auch wenn er noch heute die Auffassung vertritt, daß im sächsischen Städtchen Waldheim ein wesentlicher Beitrag zur Entnazifizierung der DDR geleistet wurde.
Otto Jürgens hat die Waldheimer Verfahren mitgetragen. Wie alle anderen Richter und Staatsanwälte auch wurde er vor Beginn der „Unrechtsprozesse“ zu einem Ideologie-Check in die Hauptstadt geladen. Staatsanwalt Dietrich Bauer hat aufgezeigt, daß es für die Auserwählten – alles handverlesene SED- Mitglieder – durchaus die Möglichkeit gab auszusteigen und betont, daß sich Jürgens nicht mit dem Verweis auf den „Druck von oben“ entschuldigen könne. „Jürgens war keine Marionette, er war auch einer dieser Umsetzer.“ So erwähnt Staatsanwalt Bauer den Richter Hans Reinwarth, der die Prozesse nicht mitzutragen bereit war, ausschied und dennoch später Richter am Obersten Gericht der DDR war.
Die Verteidigungsstrategie der Anwältin Dorothea Stöckchen war schlicht. Trotz der Ausführungen des Staatsanwalts verwies sie auf den „Druck von oben“. Jürgens habe auf Weisung gehandelt. Seine Position sei nicht mit der eines unabhängigen Richters vergleichbar gewesen. Auch zog sie für ihre Freispruchforderung die mangelnde Rechtskenntnis Otto Jürgens heran. Zweimal war der Schreiner bei dem einjährigen Volksrichterlehrgang durchgefallen und wußte daher nicht, so die Verteidigerin, daß es eines individuellen Schuldnachweises bedurfte. Und: Der Staatsanwalt selbst habe die individuelle Schuld Jürgens nicht nachgewiesen.
Das stimmt nur halb. Zwar fehlt es an Dokumenten, aus denen das individuelle Verhalten Jürgens bei den sieben zur Anklage gelangten Verfahren nachvollziehbar würde. Hätte Jürgens sich jedoch jemals aufmüpfig verhalten, wäre das sicherlich zu den Akten gelangt. In einem Dienstzeugnis über Jürgens finden sich wichtige Stichwörter: „Parteiergebenheit, keine Diskussion über die Richtigkeit der sowjetischen Protokolle, einer der zuverlässigsten Genossen“.
Der Prozeß läßt wenig Zweifel daran, daß Jürgens getan hat, was ihm vorgeworfen wurde. Die rechtliche Seite wurde im Prozeß vor dem Leipziger Landgericht eingehend behandelt. X Zeugen wurden gehört, die das ewig gleiche Lied hinlänglich bestätigten: keine Zeugen, keine Verteidiger, keine Beweisaufnahme, vor allem aber kein individueller Schuldnachweis.
Richter Wolfgang Helbig hat mit seinem Urteil – einer zweijährigen Bewährungsstrafe – erfolgreich versucht, sowohl die persönliche Schuld Otto Jürgens an den damaligen Verfahren, als auch die politische Situation der gerade gegründeten DDR in seinem Urteil zu berücksichtigen. Er hat die Problematik angedeutet, die sich ergibt, wenn ein Staat über die Unrechtstaten eines anderen Staates urteilt. Er hat Jürgens' Auffassung akzeptiert, der die damaligen Prozesse als Beitrag zur Entnazifizierung verstanden hat, und hat zu seinen Gunsten gelten lassen, daß Jürgens im Prozeß die Höhe der damaligen Strafen in Frage gestellt hat, auch wenn der weiterhin der Auffassung ist, daß er sein ganzes Leben für „Recht und Wahrheit“ eingetreten ist. Julia Albrecht, Leipzig
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