: Unter keinem guten Stern
Aufstieg und Fall der Mercedes-Stadt Sindelfingen: Nach fetten Jahren stellt man sich wie der Autokonzern auf magere Zeiten ein ■ Aus Sindelfingen Peter Bausch
Im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher. Mehr Arbeitsplätze als Einwohner, praktisch keine Schulden, schwindelerregende Gewerbesteuereinnahmen und eine Infrastruktur, die selbst Großstädte vor Neid erblassen ließ – das schwäbische Sindelfingen galt als reichste Kommune Deutschlands, war das Symbol schlechthin für Wohlstand und blühende Wirtschaft. Es war einmal. Innerhalb von sieben Jahren ist der Traum vom ewigen Schlaraffenland zerstoben. Seinen Job verloren hat selbst der seit 16 Jahren amtierende parteilose Oberbürgermeister Dieter Burger. Für einen Neuanfang sorgen will jetzt der 41jährige SPD-Mann Joachim Rücker-Kirscher.
Im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher. 1987 träumte Daimler-Benz noch davon, mehr als 600.000 Personenwagen im Jahr zu verkaufen. 1992 wurde Mercedes erstmals von BMW überholt. Dieses Jahr will die Firma nurmehr 485.000 Autos produzieren, 525.000 verkaufen. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte stehen Fahrzeuge mit dem Stern auf Halde.
„Das Management ist unfähig, weil es vor zehn Jahren nicht begriffen hat, welche Autos heute gefragt sind. Mercedes hat den Markt einfach verschlafen“, sagt Herbert Rödling, Buchhändler in Sindelfingen, Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat und Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl.
Die Fehleinschätzung des Mercedes-Managements hat die Stadt Sindelfingen an den Rand des Ruins getrieben. Seit 1987 korrigiert das Rathaus die Gewerbesteuereinnahmen nur noch nach unten. Von den ursprünglich angenommenen 130 Millionen Mark für 1993 waren gerade noch 48 Millionen übriggeblieben. Die stolzen Rücklagen sind auf das gesetzliche Minimum zusammengeschmolzen, der Schuldenberg der Kommune mit Krankenhaus und Stadtwerken auf 160 Millionen Mark angewachsen.
Im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher. Die Verunsicherung hat die ganze Stadt erfaßt. Arbeitsplätze „beim Daimler“, wie die 1915 in Sindelfingen gegründete Fabrik auch heute noch von den Einheimischen genannt wird, waren bis vor wenigen Jahren quasi eine Lebensversicherung, vererbten sich quer durch die Generationen. Heute läßt sich die Angst um die Zukunft nicht mehr verheimlichen. Damit hat eigentlich keiner gerechnet.
Im größten deutschen Mercedes-Werk waren einmal über 47.000 Menschen beschäftigt. „Entlassungen sind bei uns noch kein Thema“, beteuert Erich Klemm, der Betriebsratsvorsitzende. Vorruhestand, Umsetzungen, kein Ersatz von ausgeschiedenen Mitarbeitern – auf diesen Wegen sind in Sindelfingen bislang über 4.000 Arbeitsplätze verschwunden, in Wörth, Mannheim, Düsseldorf, Bremen, Hamburg, Berlin und Untertürkheim weitere 11.000 Stellen gestrichen. Ein Ende ist nicht abzusehen: Weitere 7.000 Jobs fallen 1993 weg. Und falls die jetzt vorgestellte C-Klasse nicht wie erhofft einschlägt, schließt Helmut Werner, der neue Mercedes-Chef, selbst Entlassungen nicht mehr aus.
Mercedes geht nun in die Offensive, will sich um Marktsegmente kümmern, die jahrzehntelang vernachlässigt wurden. Mit dem Segen des Betriebsrats: „Wir fordern vom Unternehmen eine Modellpolitik, die sich stärker nach unten orientiert. Nur moderne Verkehrskonzepte können die Arbeitsplätze hier sichern. Das heißt auch, daß Mercedes für den Stadtverkehr leichtere, umweltfreundliche und sparsamere Autos bauen muß.“ Für die Stadt Sindelfingen kommt der Umschwung vielleicht zu spät. Mit links hatte die Kommune Hunderte von Millionen Mark investiert. Das städtische Krankenhaus ist mit einem Riesenaufwand erweitert worden, für 35 Millionen Mark gab's eine dreigeschossige Tiefgarage unter dem Marktplatz, für knapp 75 Millionen den Umbau der Stadthalle zu einem Kultur- und Kongreßzentrum mit allen Schikanen, für elf Millionen eine Kunstgalerie aus dem Büro von Josef Paul Kleihues. Der „Sindelfinger Standard“ ist schon legendär. Das „Mercedes- Prinzip“ hat die Stadt geprägt.
Aber im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher.
Oberbürgermeister Dieter Burger, der seinen Stuhl am 31. Juli räumen mußte, macht die „vielen unpopulären Maßnahmen“ zumindest mitverantwortlich für seine Wahlniederlage. Vorbei sind die Zeiten, als Sindelfinger Eltern keine Kindergartengebühren zahlten, als die ersten beiden Stunden Parken in der Marktplatz-Tiefgarage keinen Pfennig kosteten, als das Hallenbad morgens um 6 Uhr seine Pforten für Frühschwimmer öffnete, als weder die Gebühren für Wasser noch für Müll und schon gar nicht für Beerdigungen die tatsächlichen Kosten deckten.
„Natürlich ist der Sindelfinger Wohlstand jetzt ein Handicap“, sagt Joachim Rücker, der neue Oberbürgermeister, „der hohe Standard ist in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Es ist sehr viel schwieriger, eine Sparpolitik in einer Stadt zu fahren, in der die Leute so verwöhnt waren.“
Im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher. Heute diskutiert der Gemeinderat stundenlang darüber, ob der Bauhof einen neuen Bremsenprüfstand braucht oder nicht. Der Dienst-Mercedes des Oberbürgermeisters wird auch nach sieben Jahren nicht ersetzt. An den Landkreis übergeben ist die Müllabfuhr. Konsequenz: Die Bürger zahlen dreimal mehr als früher für ihre Mülleimer. Drastisch zusammengestrichen sind die Zuschüsse an die Vereine. Selbst das Hätschelkind Sport läßt Federn, und auch im sozialen Bereich bleibt der Rotstift nicht ausgespart.
Ahmad Amini, jahrelang ehrenamtlich in der Ausländerarbeit engagiert, jetzt auf dem Rathaus auch für Flüchtlingsfragen zuständig, macht sich Sorgen um die Zukunft der Stadt, in der jeder fünfte nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt: „Das Sindelfinger Modell, einzigartig in der Bundesrepublik, ist in Gefahr. Ohne Zuschüsse können Ausländerbeirat, Vereine und Arbeitsgemeinschaften nicht existieren.“
Im Zeichen des dreizackigen Sterns ist nichts mehr so wie früher. Vor fünf Jahren präsentierten Daimler-Chef Edzard Reuter und Oberbürgermeister Dieter Burger noch stolz ihren gemeinsamen Kauf für die Kunstsammlung der Stadt: ein Porträt des Apellrats Stenglein, gemalt von Wilhelm Leibl Ende des letzten Jahrhundert. Preis: stolze 540.000 Mark. Heute muß Galerieleiter Otto Pennewitz mit sehr eingeschränktem Etat das Auslangen finden.
In den fetten Jahren hielten alle die Hände auf, um vom Geldsegen der Stadt zu profitieren. Jetzt machen Lehrer und ehemalige Stadträte in ihrer Freizeit gemeinsame Sache, um zwei Bücherei-Zweigstellen in den Stadtteilen zu retten: „Für uns ist es wichtig, daß sich die Bürger engagieren, privat Verantwortung übernehmen für Einrichtungen, die die Stadt nicht mehr bezahlen kann.“ Das Beispiel macht bereits Schule.
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