: Die Wahrheit ist redundant
■ Horst-Eberhard Richter, der alte Schamane
Der große alte Indianer sitzt vor seinem Tipi und erzählt. Den Blick in die Weiten des Universums gerichtet, Zwiesprache haltend mit inneren Göttern und Dämonen. Er erzählt von Krieg und zerstörter Natur, von Gewalt und Gottesverlust, von Opfern und Sündenböcken, von Scham und Destruktion. Er erzählt aus der Erfahrung eines 70jährigen Lebens. Wahr und weise. Er mahnt zur Umkehr. Und wir, seine ZuhörerInnen, können immer nur ergeben nicken.
Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker und mehr, hat ein weiteres Buch herausgebracht: „Wer nicht leiden will, muß hassen. Zur Epidemie der Gewalt“. Eine Variation zum Thema: „Die Unfähigkeit zu trauern“.
Richter beklagt: „Es ist eine traditionelle deutsche – und in den letzten Jahren wieder gezielt geförderte – unselige Unsitte, die Kraft zum Akzeptieren von Scham und Schuld mit schmachvoller Schwäche gleichzusetzen.“ Richter konstatiert: „Die Deutschen können besser hassen als trauern.“ Richter fordert: die Bereitschaft, die eigene Destruktivität zu durchschauen – „Sonst bleiben nur die Flucht in den Haß und das blinde Begehren nach Rache an denen, die unser verlogenes großartiges Selbstbild gefährden. So ist die These gemeint: ,Wer nicht leiden will, muß hassen.‘“
Von den Übeln, an denen unsere Gesellschaft leidet, läßt er keines aus: weder den Fremdenhaß noch die korrupten Politiker, weder den Balkankrieg noch die malträtierte Umwelt. Alles paßt, um die derzeitige Unfriedlichkeit nachzuweisen. Der Status quo beim Unternehmen Menschheit wird als moralisch bankrott erklärt – als „Resultat einer letztlich selbstzerstörerischen Aggression ohnegleichen.“ Hoffnung sieht er nur bei den Kindern. Wer wollte da widersprechen.
Quer durch das Buch mäandert die Destruktivität im Kulturprozeß. Taucht als allgemeine Betrachtung, als Zustandsbeschreibung, als Fallbeispiel auf. Die Wahrheit ist redundant. Man kann sie nicht oft genug sagen. Muß man sie so sagen? Die Kapitel, die Schwerpunkte setzen sollen, kann man getrost vergessen. Die Gefahr, einen Grundgedanken zu versäumen, wenn man das ein oder andere überschlägt, besteht nicht.
Wie begegnet man dem Destruktionstrieb? Mit dem Eros natürlich, seinem Gegenspieler, der nach Ausgleich und Versöhnung strebt. Und wie verhilft man diesem zum Durchbruch? Hier liegt die Crux. Der Psychologe hat sein Handwerkszeug, um den gemütskranken Menschen, der sich und andere zu vernichten droht, auf den Weg der Genesung zu führen. Der Gesellschaft, dem kollektiven Ich, kann er diesen Weg höchstens weisen. Für sie ist er kein Arzt, nur Schamane: einer, der Zauber veranstaltet, um die Krankheit sichtbar zu machen. Einer, der sagen kann, wohin es gehen müßte: Risikotechnologie abbauen, Rüstung stoppen, Konsum mäßigen, Armen helfen, Natur pflegen.
Und so kann uns eben auch Horst-Eberhard Richter zwar immer wieder hinweisen auf das, was anders werden muß – und wo wir damit anfangen sollen, nämlich bei uns selber –, aber wie wir es kollektiv hinkriegen, wie wir Gesellschaft und Politik humanisieren, heilen können, verrät er uns nicht. Aber vielleicht ist das ja die falsche Frage an dieses Buch. Bascha Mika
Horst-Eberhard Richter: „Wer nicht leiden will, muß hassen. Zur Epidemie der Gewalt“. Hamburg 1993, 220 Seiten, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen