Mit Ludwig Wittgenstein im Erlebnisbordell

■ Musikfest: Die Philharmoniker präsentierten zwei weitere Werke Jani Christous

„The Strychnine Lady“

Zunächst gab es etwas Kino: Greece: The Inner World (1964). Ein Film über griechische Mythen zu dem Christou eine sehr antik klingende Chor-/Orchestermusik komponiert hat, äußerst suggestiv und unheilschwanger. Nach der schaurig-schönen Besichtung des prometheischen Schicksals in dramatischer Gewandung der sechziger Jahre, trat Klaus Angermann, Dramaturg der Staatsoper ins Rampenlicht, um dem Publikum mitzuteilen, daß Herr Papaioannou, glühender Christouverehrer und Nachlaßverwalter, seinen angekündigten Vortrag zu Jani Christous unfallbedingt nicht halten könne. Der griechische Gelehrte sei daheim auf seinem Marmorfußboden ausgerutscht und hätte sich die Schulter gebrochen. Ein makabrer Lacher lag in der Luft, immerhin ist Christous kurzes Geniedasein durch einen spektakulären Autounfall beendet worden, der in Papaioannus biographischen Schriften das Ausmaß einer antiken Tragödie annimmt. Ohne Zweifel war Christou kein rotziger 68er, der mit obszönen Performances oder delikaten Provokationen einem biederen Publikum die Schamesröte ins Gesicht treiben wollte. Christous enzyklopädische Bildung - ein dreijähriges Studium bei Wittgenstein in Cambridge und ausgiebige Studien bei C.G. Jung in Zürich gaben dem jungen Gelehrten eine intellektuelle Statik besonderer Güte - war für einen tagespolitisch ausgerichteten künstlerischen Diskurs nicht geeignet. Christous Anliegen war faustischer Natur, eine musikalische Suche nach den letzten Dingen, nach einer metaphysischen Verschmelzung von musikalischen und paramusikalischen Elementen. Seine großangelegten Projekte, gewaltige mixed-media-Spektakel mit Ritualcharakter, die zusammengenommen ein monströses Schaufenster abendländischer Daseinskonflikte ergeben sollten, waren als landschaftsumspannendes Festival konzipiert und sollten sich über mehrere Tage erstrecken. Die 1967 entstandene Strychnine Lady für Solobratsche, 5 Schauspieler, Instrumentalensemble und Tonbänder, ist Bestandteil dieser Mammutidee gewesen.

Ein gehöriges Quantum Verunsicherung und Bangemachen gehört schon zum Christouschen Konzept, das mit irritierenden Showelementen nicht gerade sparsam umgeht. Ein schwarz gekleideter junger Mann gab bekannt, daß das angekündigte Stück leider wegen „völlig unvorhersehbarer technischer Schwierigkeiten“ ausfallen müsse. Allgemeines Geraune durchzog das gutgefüllte Forum der Musikhochschule und einer zappeligen Dame entfuhr ein gekiekstes „Ich protestiere“. Bis auf einen brummeligen Herrn, der ihr kleinlaut empfahl, sich zu beherrschen, hatten alle begriffen, daß das nun bereits schon echter Christou war. In den darauf folgenden 30 Minuten demonstrierten die engagiert agierenden Mitglieder der Philharmonie, die Vokalisten die Maulwerker und die spürbar motivierte Bratschistin Andra Darzins die Story mit dem Strychnin, das ein Bordell interesssierten Kunden zur sinnlichen Bewußtseinserweiterung anbietet. Lärm, Ekstase und allerlei lustige Streiche mit Kinderspielzeug bildeteten den akustischen Rahmen für eine etwas launige Performance, die nicht so recht provozieren konnte und kaum etwas von dem vermittelte, was tags zuvor das NDR-Sinfonieorchester mit dem Orchesterwerk Enantiodromia so überragend gelang. Sven Ahnert

Schönberg-Christou-Brahms

Das Musikfest ist in vollem Gange. Und immer noch sind sich die Experten nicht einig, ob sie eher froh sein sollen darüber, daß sich einiges tut im Verhältnis Hamburgs zur musikalischen Moderne oder lieber weiter vergrätzt über den Automatismus, mit dem in Hamburg alle Welt am liebsten Brahms spielen zu müssen glaubt.

Das philharmonische Abonnenments-Konzert am Sonntagmorgen half da keinen Schritt weiter. Der Beginn mit Schönbergs Kammersinfonie Nr. 2 op.38 lief eher außer Konkurrenz. Kent Nagano, der bemerkenswert uneitle Nachfolger John Eliot Gardiners an der Oper in Lyon, wußte die Philharmoniker zu angenehm geordnetem Spiel zu animieren. Der kontrapunktisch dominierte Mittelsatz hätte gern eckiger, durchsichtiger und akzentuierter sein können; das in der Entstehungszeit (1906) bei ArnoldSchönberg typische Changieren zwischen spätromantischem Orchesterhabitus und moderner Kammermusik-Schärfe wäre deutlicher geworden. An Nagano, der mit dem ganzen Körper, dabei freilich sehr präzis zu dirigieren pflegt, lag es gewiß nicht.

Höhepunkt des Morgens war darauf Jani Christous Stück „Praxis“. Die bemerkenswert eigenständige Musik des griechischen Komponisten geht abseits von der Entwicklung des „Mainstream“ zeitgenössischer Musik ungewöhnliche Wege und ist dabei spannend und, wie es scheint, sogar - relativ - populär. In Praxis, geleitet und am Klavier mitgestaltet von Horst Göbel, steigern sich zarte Klangflächen aus Streicherpiccicati und Glissandi, dazu gelegentliches Flageolette der Bässe, weitgehend unstrukturiert aber dennoch atmend und pulsierend, zu drohender Atmosphäre, in die hinein das Klavier - als Schlag- und Zupfinstrument zu Gong und Schlagwerk - und schließlich Sprechen, Rufen, Schimpfen von Orchestermitgliedern (die teils auch aufstehen und das Klavier umlagern) aggressive Akzente setzen. Das Ganze schließt zyklisch, in der ruhigen Flächigkeit des Beginns. Erfreulich: Der Beifall überwog die obligaten Buhs der Abonnenten, die sich bei Schönberg noch nicht getraut hatten.

In Brahms' heiter-pastoralen Serenade Nr.1 op.11 riß Nagano das Philharmonische Staatsorchester dann abschließend zu, für diesen Klangkörper, bisweilen geradezu haydnischer Ausgelassenheit hin. Das wär was für Renate gewesen!

Stefan Siegert